Interview mit Sebastian M. Spitra über Recht, Kolonialismus und Imperiengeschichte
Seit Oktober 2024 ist der Rechtshistoriker Dr. Sebastian M. Spitra Forschungsprofessor am Käte Hamburger Kolleg. Wir haben uns mit ihm über seine aktuellen Forschungsprojekte unterhalten.
Dr. Sebastian M. Spitra ist seit 2020 Post-Doc Researcher am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien und bekleidet im Wintersemester 2024/25 die Forschungsprofessur am Käte Hamburger Kolleg. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Völkerrechtsgeschichte, das Recht des kulturellen Erbes und (post-)koloniale Rechtswissenschaft.
Herr Dr. Spitra, vor Ihrer Forschungsprofessur waren Sie bereits Fellow am Kolleg. Mit was für einem Forschungsprojekt haben Sie sich während der Fellowships beschäftigt?
Ich habe zuerst als Fellow ein Projekt unter dem Titel „Vielfalt transnational verhandeln. Die Figur der Ausnahme in Begründungsprozessen des internationalen Privatrechts“ verfolgt. Dabei geht es darum, dass wir seit dem 19. Jahrhundert zunehmend in einer Welt von (National-)Staaten leben, und mich interessiert, wie sich das Recht in dieser Transformation von globalem Ausmaß verändert hat. Der Rechtsbereich, den ich mir dabei ansehe, ist das internationale Privatrecht. Dieses Teilrechtsgebiet regelt aber nicht den Inhalt von Rechtsnormen, etwa das Familien-, Vertrags-, Erb- oder Sachenrecht, sondern ist ein reines Kollisionsrecht bzw. Koordinationsrecht. Das bedeutet, es regelt, welche Rechtsordnung auf ein Rechtsverhältnis überhaupt anwendbar sein soll. Denn es vermittelt zwischen der Vielfalt an staatlichen, bundesstaatlichen oder regionalen Rechtsordnungen, welche durch unterschiedliche Anknüpfungspunkte beanspruchen können, einen Sachverhalt zu regeln.
Das besonders Spannende dabei ist, dass das internationale Privatrecht aber für sich und entgegen seinem Namen eigentlich kein internationales Recht (i.e. Völkerrecht) und damit überstaatliches Recht ist, sondern jeweils innerstaatliches Recht. Jeder Staat hat also ein eigenes internationales Privatrecht. Die Frage ist also, wie es vonstattenging, dass sich ein Kollisionsrecht entwickelt hat, das die Rechtsverhältnisse transnational einigermaßen friktionsfrei regelt. Das ist nicht trivial, denn Souveränität und Jurisdiktion werden bei solchen Fragen stets mitverhandelt. Es zeigt sich also hier, wie ein Rechtsbereich entstanden ist, der die Vielfalt der Rechtsordnungen überhaupt erst koordiniert. Der dabei entstandene Text wird als Teil der mehrbändigen The Cambridge History of International Law publiziert werden.
Mit den „Kapitulationen von Santa Fe“ beauftragte das kastilische Königspaar 1492 Christoph Kolumbus, eine Entdeckungsreise im Atlantischen Ozean zu unternehmen: der Beginn der europäischen Expansion und des Kolonialismus.
Sie sind seit dem 1. Oktober 2024 Forschungsprofessor und werden so das Programm des Kollegs mitgestalten. Mit welchen Themen und Projekten befassen Sie sich momentan?
Momentan beschäftige ich mich mit Rechtspluralismus in drei weiteren Dimensionen, zu denen ich jeweils Teilprojekte durchführe.
Mit meinem Kollegen João Figueiredo vom Käte Hamburger Kolleg verfolge ich das Projekt The Legal Pluralism of Heritage. Wir möchten in diesem Projekt die kulturwissenschaftlichen Einsichten des material turns mit einem konkreten Anwendungsfall der Rechtswissenschaft verbinden. Unser Testfeld dafür sind die Rechtsdiskurse um die Restitution von materieller Kultur bzw. Kulturgütern von kolonialer Provenienz, die momentan auch in der breiten Öffentlichkeit sehr präsent sind und auch medial verhandelt werden. Die Ausgangsprämisse ist, dass in der rechtlichen Auseinandersetzung um Erwerbungskontexte materieller Kultur fast ausschließlich völkerrechtliche oder staatliche Normen der ehemaligen Imperien herangezogen werden, um die Fälle zu beurteilen. Grund dafür ist das intertemporale Recht, ein Grundsatz, der für Rechtsordnungen vorsieht, dass Sachverhalte nach dem Recht beurteilt werden sollen, das im Zeitpunkt der Wegnahme, Aneignung oder Translokation in Geltung stand. Hier kommt unser Projekt ins Spiel, da wir Rechtspluralismus als analytischen Begriff heranziehen, um systematisch auf die normativen Ordnungen der Ursprungsgesellschaften zu blicken und einerseits zu rekonstruieren versuchen, in welchen normativen Verhältnissen und Vorstellungen die Kulturgüter eingebettet waren. Andererseits blicken wir auch auf indigene Gesellschaften und auf die gelebten Praktiken in Bezug zu diesen oftmals als Subjekt-Objekten verstandenen Kulturgütern. In der Verfolgung des Projekts haben wir dieses Jahr zwei Workshops in Münster abgehalten (Titel: Forensics of Provenance und Indigenous Law), mit einem offenen Call for Papers haben wir ca. 80 Einreichungen zu diesem Thema von Forschenden aus allen Kontinenten erhalten. Besonders wichtig war es uns dabei, Personen aus dem Globalen Süden einzuladen, wofür wir an dieser Stelle auch dem Kolleg danken müssen, denn erst diese großartige Forschungsinfrastruktur ermöglichte uns, dieses Projekt auf solch eine Weise durchzuführen. Die Ergebnisse aus den Workshops sollen in einem interdisziplinären Band vereint werden, an deren Zusammenstellung wir gerade arbeiten.
Ihr zweites Teilprojekt hat den Titel „Kolonialismus und Recht“. Worum geht es da?
Aus einer Vorlesungsreihe, die ich im Jahr 2023 im Weltmuseum Wien gehalten habe, verfasse ich gerade das Buchmanuskript „Welten von Normen. Eine Geschichte von Kolonialismus und Recht in der Neuzeit“, das hoffentlich im nächsten Jahr erscheinen wird. Es ist ein Überblicksband, der sich für die Epochen der Frühen Neuzeit, der Moderne und der Dekolonisationära mit dem Verhältnis von Kolonialismus und Recht beschäftigt. Dies alles waren Perioden, während derer mit Rechtsvielfalt, sowohl in Europa wie im kolonialen Raum, umgegangen werden musste und sich diesbezüglich verschiedene Ideen und Praktiken entwickelten. Dabei blickt das Buch auf drei Ebenen: Erstens, inwiefern europäische und außereuropäische Rechtsförmigkeit sowie normative Vorstellungen miteinander interagierten, kollidierten oder einander beeinflussten. Zweitens blickt es auf die interimperialen und internationalen Rechtsverhältnisse und fragt, wie das Recht diese strukturierte und legitimierte. Drittens thematisiert es den kolonialen Raum und wie das Recht diesen konstruierte. Dabei geht es aber auch um emanzipatorische Rechtspraktiken.
Ein Meilenstein der Dekolonisation: Bei der Konferenz von Bandung traten 1955 erstmals zahlreiche afrikanische und asiatische Staaten zusammen, um gemeinsame Interessen zu artikulieren.
An wen wird sich dieses Buch denn richten?
Das Buch richtet sich einerseits an Studierende der Rechtswissenschaft und Geschichte. Andererseits zeigten die bereits zuvor erwähnten Debatten um die Restitution von Kulturgütern, dass es Interesse einer breiteren Öffentlichkeit an solchen Themen gibt, die für das Verstehen der gegenwärtigen Welt und internationalen Beziehungen von großer Bedeutung sind. Diese Monografie möchte daher auch einen Beitrag leisten, einem breiteren Publikum eine Einführung in diesen vielfältigen Themenkomplex auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung anzubieten.
Der Titel Ihres dritten Forschungsprojekts lautet „Privatrechtsgeschichte als Imperiengeschichte. Neue Wege zur Rechtsgeschichte des Habsburgerreichs“. Was kann man sich darunter vorstellen?
In diesem Projekt möchte ich einen neuen Ansatz entwickeln, um die Rechtsgeschichte des Habsburgerreichs als Imperium in den Blick zu nehmen und historisch zu analysieren. Als wichtiges Kennzeichen dieses Imperiums wird in den Geschichts- und Kulturwissenschaften die Konstruktion und der Umgang mit Differenz und Pluralität im Habsburgerreich angeführt; sei es zwischen verschiedenen Ethnien, Nationalitäten, Religionen, race oder sei es auf einer horizontalen sowie vertikalen Ebene. Die Integration dieser Vielfalt in staatliche Institutionen wird insbesondere im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche, inter- und supranationale Herausforderungen diskutiert. Die Rechtsgeschichte und vor allem die Privatrechtsgeschichte haben sich diese Fragen nach dem Umgang mit gesellschaftlicher und rechtlicher Pluralität im Habsburgerreich aber bisher nicht systematisch gestellt.
Zugleich besitzen aber auch die Geschichtswissenschaften hier eine Leerstelle: Während staats-, verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Studien bereits in diese Forschungsdiskurse einbezogen werden, spielen das Privatrecht und seine Geschichte in der Diskussion solcher Fragen bislang keine bedeutende Rolle. In diesem Projekt geht es daher darum, die Möglichkeiten imperiengeschichtlicher Ansätze für die Privatrechtsgeschichte, aber genauso jene von privatrechtsgeschichtlichen Ansätzen für die Imperiengeschichte zu vermessen. Mit dem in süd- und osteuropäischen Ländern der Habsburgermonarchie verbreiteten Rechtsinstitut des Kolonats und der Einführung des internationalen Privatrechts im Habsburgerreich sollen dafür zunächst zwei Testfelder aus dem späten 19. Jahrhundert untersucht werden. Sie sollen zeigen, dass ein interdisziplinärer Austausch wichtige Impulse und neue Wege zur österreichischen Rechtsgeschichte und zur Geschichte des Habsburgerreichs liefern kann.
Was schätzen Sie besonders an der Arbeit am Käte Hamburger Kolleg Einheit und Vielfalt im Recht?
Wichtig ist mir der Austausch mit internationalen Fachkollegen, aber genauso der interdisziplinäre Diskurs. Es ist ein Privileg, dass man im Kolleg neben Anthropologen, Soziologen, Historikerinnen und Juristinnen gleichermaßen sitzt, um mit unseren unterschiedlichen fachlichen sowie geographischen Hintergründen in Dialog über gemeinsame Fragestellungen oder Forschungsprobleme treten zu können. Dabei schätze ich besonders die Balance zwischen den formellen Veranstaltungen und den informellen Austauschmöglichkeiten.
Was erhoffen Sie sich für Ihre Forschungsprofessur?
Eigentlich habe ich mit den Anregungen, die ich hier durch den Austausch mit den Kollegmitgliedern und Fellows erhalten habe, schon mehr bekommen, als ich mir erhofft habe. Es ist besonders großartig, dass konkrete Forschungsprojekte und Kooperationen hier entstanden sind. Ich genieße die konzentrierte Arbeitsatmosphäre und freue mich darauf, in meiner Zeit am Kolleg dadurch hoffentlich zwei meiner Projekte abzuschließen. Außerdem freue ich mich darüber, eine neue Stadt und Umgebung zu erkunden. Das kulturelle Angebot in der Stadt ist beachtlich und auch auf die Weihnachtsmärkte freue ich mich.
Das Interview wurde im November 2024 geführt. Die Fragen stellte Kathrin Schulte.
Zitieren als:
Sebastian M. Spitra/Kathrin Schulte: „Themen von großer Bedeutung für das Verstehen der gegenwärtigen Welt“. Interview, EViR Blog, 09.01.2025, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewspitra/
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