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„Die Gesellschaft war zwischen modernen und konservativen Tendenzen hin- und hergerissen“

Interview mit Hesi Siimets-Gross über die Privatrechtsentwicklung im Estland der Zwischenkriegszeit

Die Moderne gilt als Zeitalter der rechtlichen Vereinheitlichung. Die aufkommenden Nationalstaaten waren nicht nur Ergebnis politischer Einigungsprozesse, sondern trachteten auch nach einer Harmonisierung des Rechts innerhalb ihrer Grenzen. Dass diese Meistererzählung mit Blick auf den Einzelfall differenziert werden muss, zeigt die Rechtshistorikerin Hesi Siimets-Gross. Sie untersucht  die Privatrechtsentwicklung der 1920 erstmals unabhängig gewordenen Republik Estland, in der eine ständisch geprägte Kodifikation des 19. Jahrhunderts in Kraft gesetzt wurde. Im Interview berichtet sie über die Aufbrüche und Beharrungstendenzen der damaligen Zeit.

Frau Dr. Siimets-Gross, in Ihrem Forschungsprojekt untersuchen Sie die Vereinheitlichung des Privatrechts in Estland zwischen 1918 und 1939. Könnten Sie in wenigen Sätzen die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen und Dynamiken beschreiben, die diese Periode in Ihrem Untersuchungsgebiet kennzeichnen?

Das Territorium der heutigen Estnischen Republik gehörte ab dem 18. Jahrhundert zum Russländischen Reich und war in zwei Gouvernements, Estland und Livland, aufgeteilt. Nach dem Ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution von 1917 und der Machtübernahme der Bolschewiki sah die estnische Bevölkerung die Möglichkeit gekommen, sich aus dem Russländischen Imperium zu befreien, und am 23./24. Februar 1918 wurde die estnische Unabhängigkeit erklärt. Da daraufhin zunächst die deutsche, danach die russische Armee einmarschierte, begann der estnische Freiheitskrieg, der am 2. Februar 1920 mit dem Tartuer Frieden beendet wurde.

Die estnische Verfassungsgebende Versammlung trat schon 1919 zusammen und sollte die rechtlichen Grundlagen für einen neuen Staat ausarbeiten. Als temporäre Lösung wurden jene bisher geltenden Gesetze in Kraft gesetzt, die nicht mit etwaigen estnischen (vor-)konstitutionellen Bestimmungen in Widerspruch standen. So wurde 1920 im privatrechtlichen Bereich das „Liv-, Esth- und Curländische Privatrecht“ (LECP) für (fast) alle Einwohner Estlands in Kraft gesetzt; daneben galten noch die russischen Gesetze.

Das „Liv-, Est- und Curländische Privatrecht“ stammt bereits aus dem Jahr 1864. Welche Charakteristika weist dieser Rechtstext auf?

Das LECP war ein Gesetzbuch für drei Ostseegouvernements des Russländischen Imperiums: Livland, Estland und Kurland. Obwohl das Reich aus verschiedenen Gebieten mit unterschiedlichen Rechtsordnungen bestand, wurden die Kodifikationsarbeiten zentral ausgeführt. Die ursprüngliche Absicht war, das geltende Recht lediglich zu konsolidieren, also nur zusammenzustellen und nicht, wie sonst zeitgenössisch üblich, zu vereinheitlichen. Deshalb sollten die Quellenverweise die Herkunft des jeweiligen Artikelinhalts belegen. Eigentlich waren und sind Quellenverweise in einem Gesetzbuch unüblich, stellten jedoch im Russländischen Reich eine gängige Praxis dar. Der Verfasser des LECP, Friedrich Georg von Bunge (1802–1897), hat die Konsolidationsabsicht besonders streng verfolgt und alle regionalen Besonderheiten der verschiedenen Stadt- und Landrechte sowie die gesamten Landesrechte mitkodifiziert, die alle durch den sogenannten Leim des römischen Rechts verbunden waren. Das römische Recht galt zum Zeitpunkt der Konsolidation ebenfalls, wenn auch nur subsidiär.

Das LECP galt zunächst nur für etwa fünf Prozent der Bevölkerung: für Adlige, Stadtbürger, evangelische Geistliche und sogenannte Literaten (dazu zählten freie Berufe wie Rechtsanwälte, Universitätsprofessoren und Hauslehrer), die meist Deutsche bzw. Deutschbalten waren – in wenigen Fällen auch Russen oder Schweden. Für die estnische und lettische Bevölkerung der Gouvernements (ca. 95 %) galt es hingegen nicht.

Somit war das LECP im 19. Jahrhundert eine sehr spezielle und eigenartige Erscheinung, die sich von anderen damaligen und heutigen Privatrechtsgesetzbüchern deutlich unterschied: Es blieb vormodernen, ständischen Prinzipien verhaftet und beinhaltete trotz des Konsolidationswunsches viele territoriale Besonderheiten und Abweichungen.

Steht das LECP trotz der zeitgenössischen Bezeichnung „Kodifikation“ also eher für Rechtsvielfalt als Rechtseinheit?

Genauso ist es. Unter Kodifikation versteht man allgemein „die umfassende und abschließende Regelung eines gesamten Rechtsgebietes durch ein Gesetz“ (Oestmann), das von einem Herrscher erlassen wird und zu Rechtseinheit innerhalb seines Geltungsbereichs führt. Obwohl das LECP durchaus von einem Herrscher – dem russischen Zaren – erlassen wurde, blieb es inhaltlich sehr zersplittert. Ich nenne nur ein Beispiel aus dem Testamentsrecht: Nach estländischem Stadtrecht und kurländischem Recht sollten Testamentszeugen Solennitätszeugen sein – ihre Anwesenheit war unbedingt zum gültigen Testamentsabschluss notwendig. Neben diese Vorgabe wurde jedoch auch die est- und livländische Landrechttradition in die Kodifikation aufgenommen, nach der Testamentszeugen nur Beweiszeugen sind und ein schriftliches Testament auch dann gültig bleibt, wenn es keine Zeugen bei der Abfassung gab. In den Ostseegouvernements des Russländischen Imperiums galten nun laut dem kodifizierten Gesetzbuch beide Regelungen nebeneinander.

„Obwohl das LECP von einem Herrscher erlassen wurde, blieb es inhaltlich sehr zersplittert“

Hesi Siimets-Gross
Der Verfasser des LECP, Friedrich Georg von Bunge (1802–1897)
© Wikimedia Commons

Warum wurde denn ausgerechnet ein Gesetzbuch, das aus dem vorherigen Jahrhundert stammte und nur für eine Minderheit gegolten hatte, 1920 in der jungen Estnischen Republik für die Gesamtbevölkerung eingeführt? Und welche Auswirkungen hatte das auf die Gesellschaft?

Es war auch den damaligen Staatsmännern klar, dass das LECP veraltet war. Trotzdem brauchte man eine Übergangslösung und die Argumente waren praktischer Natur: Die bis dahin für die estnische und lettische ländliche Bevölkerung geltenden Bauernverordnungen waren nicht für die Vielfalt an Situationen einer modernen Gesellschaft ausgelegt. Das LECP hatte für sie auch schon subsidiär gegolten und war damit nach damaligen Behauptungen bekannt. Ein zusätzliches Argument für die Einführung des LECP war, dass die entsprechende juristische Literatur und die gerichtliche Auslegungspraxis schon vorhanden und bekannt waren. Schon 1919 hatte man in der Verfassungsgebenden Versammlung an die Ausarbeitung eines neuen Zivilgesetzbuchs gedacht. Wie aber so oft, blieb die Übergangslösung viel länger in Kraft als erwartet. Überraschend ist, dass Sprachbarrieren bei der Inkraftsetzung und Geltung des LECP kaum Bedeutung hatten – es war ja auf Deutsch verfasst und mit einer amtlichen russischen Übersetzung versehen worden. Eine amtliche oder vollständige nichtamtliche estnische Übersetzung des Gesetzbuches wurde hingegen nie herausgegeben.

Die Gesellschaft war während der gesamten Periode von 1918 bis 1940 zwischen modernen und konservativen Tendenzen hin- und hergerissen und musste sich mit der Realität der Rechtsvielfalt – wie eigentlich auch schon zuvor – auseinandersetzen. Besonders deutlich wird dies beim Familienrecht, wo das Ehegesetz separat vom Zivilgesetzbuch (ZGB) ausgearbeitet wurde und sehr modern war. Beim Verfassen des ZGB-Entwurfs bewegte man sich wieder in die konservativere Richtung. Was die gesellschaftlichen Auswirkungen des LECP angeht, sind diese bislang noch nicht im Detail untersucht worden.

„Rechtsgeschichtsschreibung wird durch die biographische Dimension persönlicher“

Hesi Siimets-Gross

Sie beschäftigen sich auch mit der Person Jüri Uluots (1890–1945), der von 1939 bis zu seinem Tod Ministerpräsident der Republik Estland war. Welche Rolle spielt Uluots für Ihr Projekt und wo sehen Sie besondere Vorteile biographischen Arbeitens für die Rechtsgeschichtsschreibung?

Jüri Uluots arbeitete in vielen Gebieten bei der Gesetzgebung mit, u. a. beim Zivilrechtsentwurf. Während des langen Ausarbeitungsprozesses des ZGB-Entwurfs war er einer der Hauptfiguren, etwa der Verfasser der Motive zum ZGB-Entwurf und damit derjenige, der dem Entwurf öffentlich sein ‚Gesicht geliehen hat‘. Er hat den Erarbeitungsprozess jedoch nicht vollständig begleitet und sich zeitweise anderen Verpflichtungen zugewendet, sodass der Umfang seines Engagements bisher noch unklar ist. Hinter jeder gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklung, auch hinter Gesetzen, stehen Menschen, die sie vorantreiben und ihre Ansichten verwirklichen, das gilt besonders für ein so kleines Land wie Estland. So hoffe ich, dass es mir oder unserer kleinen Arbeitsgruppe, die über Uluots und seine Errungenschaften forscht, gelingt, festzustellen, welcher Art genau sein Beitrag war. Am Anfang sprach er sich nämlich eigentlich gegen die Ausarbeitung eines neuen Zivilgesetzbuches aus, weil die Zeit dafür noch nicht reif sei. Er war der Auffassung, dass man nicht mit der Kodifikation, sondern mit Gesetzesänderungen oder neuen Teilgesetzen beginnen sollte, wie man es beim Ehegesetz auch gemacht hatte. Rechtsgeschichtsschreibung wird durch die biographische Dimension persönlicher, aber meiner Meinung nach auch klarer.

Der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg © Luxofluxo / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Neben Ihrer Forschung sind Sie am Gerichtshof der Europäischen Union als Rechts- und Sprachverständige tätig. Wie sind Sie zu dieser Tätigkeit gekommen und was gehört dort zu Ihren Hauptaufgaben?

Unterschiedliche Sprachen haben mich immer schon fasziniert und während meiner Studienzeit verbrachte ich auch ein Studienjahr in Deutschland. Danach wurden mir Übersetzungsarbeiten angeboten und als Estland 2004 der Europäischen Union beitrat, brauchte man im Europäischen Gerichtshof (EuGH) dringend Personen mit juristischer Ausbildung und Sprachkenntnissen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, die Tätigkeit als Rechts- und Sprachverständige nur freiberuflich auszuüben, auf Einladung habe ich dann jedoch auch die Arbeit vor Ort in Luxemburg aufgenommen. Seit 2012 bin ich beim Europäischen Gerichtshof festangestellt, der diejenige Institution der EU ist, wo die alltägliche Arbeit in allen Sprachen der EU stattfindet und Mehrsprachigkeit am konsequentesten durchgeführt wird. Da alle Urteile des EuGH für jeden europäischen Bürger verbindlich sind, sollte man sie auch in eigener Muttersprache lesen können. Ebenso sollten die nationalen Gerichte mit dem EuGH in ihrer eigenen Sprache kommunizieren können. Deswegen braucht man Sprachjuristen, die aus Fremdsprachen in die eigene Muttersprache übersetzen, da Übersetzungsprogramme mit der Rechtssprache überfordert sind und den Sinn des Textes verfälschen würden. Zu meinen alltäglichen Aufgaben gehört das Übersetzen aus dem Deutschen, Französischen, Englischen oder Italienischen ins Estnische; wir entwickeln aber auch die Rechtsterminologie weiter und müssen für unsere Übersetzungen täglich das Recht der verschiedenen Staaten miteinander vergleichen. So ist auch diese Arbeit sehr interessant und voller Herausforderungen.

Die Fragen stellte Emily Todt.


Zitieren als:

Siimets-Gross/Emily Todt: „Die Gesellschaft war zwischen modernen und konservativen Tendenzen hin- und hergerissen“. Interview, EViR Blog, 22.05.2024, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewsiimets-gross/.

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