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Begnadigung – ausgleichende Gerechtigkeit oder Willkürakt?

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Begnadigung – ausgleichende Gerechtigkeit oder Willkürakt?

Das Begnadigungsrecht fristet in heutigen Rechtsstaaten meist ein diskretes Dasein, doch dank der amerikanischen Präsidentschaftswahlen ist es jüngst in die Schlagzeilen gerückt. Zunächst machte der scheidende Amtsinhaber Joe Biden mit einer Welle von Begnadigungserlassen von sich Reden, unter denen besonders jener für seinen Sohn Hunter Irritationen auslöste. Aufsehen erregten aber auch die in letzter Stunde verfügten präventiven Begnadigungen von weiteren Familienmitgliedern, ehemaligen Staatsdienern und Mitwirkenden am Kongressausschuss zur Untersuchung des Sturms auf das Kapitol vom 6. Januar 2021: Dieser eigentümliche Akt sollte sie vor der Eventualität rachsüchtiger Strafverfolgung unter der nachfolgenden Trump-Administration schützen. Dass der scheidende Präsident überdies eine rekordverdächtige Zahl gewöhnlicher Delinquentinnen und Delinquenten voll oder durch Strafmilderungen partiell begnadigte, ist neben diesen politisch brisanten Fällen relativ unbeachtet geblieben.

Dann, unmittelbar nach seiner Inauguration am 20. Januar 2025, sorgte Bidens Vorgänger und Nachfolger Donald Trump für Furore, indem er als eine seiner ersten Amtshandlungen per Federstrich sämtliche Individuen, die für Straftaten im Zusammenhang mit eben jenem Kapitol-Sturm verurteilt worden waren, begnadigte und außerdem alle noch hängigen Verfahren stoppte. Mit dem Massenpardon zugunsten von rund 1.500 seiner radikalen Anhänger verbunden war eine demonstrative Umdeutung der Ereignisse vom 6. Januar 2021, die Trump durch Nichtanerkennung seiner damaligen Wahlniederlage selbst angestachelt hatte. Der Gnadenerlass, so proklamierte der neue Präsident, beende eine „grave national injustice that has been perpetrated upon the American people over the last four years“, also eine gravierende Ungerechtigkeit, welche die Strafverfolgungsorgane unter der Biden-Administration begangen hätten. Als Kandidat hatte Trump mit dem Spruch kokettiert, er wolle nach seinem Wiedereinzug ins Weiße Haus (nur) an „Day one“, am ersten Tag, als Diktator regieren, und das stapelweise Abzeichnen von Dekreten einschließlich der geschichtsumdeutenden Begnadigungsproklamation passte ins Bild: Wie ein Alleinherrscher ignorierte Trump zunächst einmal die verfassungsmäßigen checks and balances, um seine Agenda im Eiltempo zu verwirklichen.

Tyler Merbler: Storming of the United States Capitol (retouched), Wikimedia Commons, CC BY 2.0.

So besorgniserregend die aktuellen Entwicklungen in den USA sein mögen: Für mich kam die Begnadigungsschlacht rund um den amerikanischen Präsidentenwechsel wie gerufen. Sie kam pünktlich zum Start meines Fellowships am Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“, wo ich mich mit der Geschichte des Begnadigungswesens befasse, das nun dank Biden und Trump in aller Munde ist. Die Dimensionen, in denen der scheidende und der neu inaugurierte Präsident Gnadenerlasse strategisch eingesetzt haben, mögen ungewöhnlich sein, ebenso wie ihre gegenseitigen Vorwürfe, dieses Mittel zu missbrauchen. Doch ein verbrieftes Begnadigungsrecht besitzen die meisten Staatsoberhäupter dieser Welt. Der jüngste Eklat in den USA wirft somit ein Schlaglicht auf die sonderbare Persistenz eines beinahe universellen und zugleich notorisch umstrittenen Phänomens.

Warum existiert das Begnadigungsrecht überhaupt noch in heutigen Rechtsstaaten? Passt es nicht eher zum Herrschaftsrepertoire frühneuzeitlicher absolutistischer Monarchen, die sich unter Berufung auf ihr Gottesgnadentum die Macht herausnehmen konnten, Gnade vor Recht walten zu lassen? Stellt es nicht einen krassen Verstoß gegen die Grundpfeiler der modernen Rechtsordnung dar, die die Gleichheit aller vor dem Gesetz und die Unabhängigkeit der Justiz im System der Gewaltenteilung versprechen? Weshalb kann ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt in dieser spezifischen Hinsicht noch immer wie ein Sonnenkönig agieren? Selbstverständlich ist dies nicht.

Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene, Titelseite einer Ausgabe von 1780.

Kaum überraschend, war die fürstliche Gnadengewalt bereits in der Epoche der Aufklärung unter massiven Beschuss geraten. Rechtsgelehrte und Philosophen des 18. Jahrhunderts geißelten sie als Ausdruck der Willkürherrschaft. Der italienische Jurist Cesare Beccaria (1738-1794) etwa argumentierte in seinem einflussreichen Werk Dei delitti e delle pene (1764), dass Begnadigungen die Kehrseite brutaler Strafgesetze darstellten; in einer vernünftigen Rechtsordnung müsse das Gesetz milde, seine Anwendung aber gleichmäßig sein, was keinen Raum für erratische Gnadenerweise lasse. Das revolutionäre Frankreich zog die Konsequenz und strich 1791 das königliche Begnadigungsrecht. Allerdings währte dieser Schritt nur kurz: Schon 1802 wurde es dem Staatsoberhaupt, nun dem Ersten Konsul, wieder zugesprochen. In den meisten anderen europäischen Staaten stand es nie ernsthaft zur Disposition, und auch die aus einer Revolution geborenen USA fixierten das präsidiale Begnadigungsrecht in ihrer Bundesverfassung von 1787.

Statt zu verschwinden, brach nach der Epochenschwelle um 1800 die womöglich größte Zeit der Gnadengewalt an: Angesichts langwieriger Gesetzesreformen spielte es eine bemerkenswert progressive Rolle bei der vorwegnehmenden Milderung von nun als unzeitgemäß hart empfundenen Strafnormen – zum Leidwesen manch konservativ-autoritär gesinnter Zeitgenossen, die eine Aushöhlung des Rechts durch exzessive Gnade beklagten. In England und Wales beispielsweise, wo eine bizarre Gesetzgebung bei über 200 Tatbeständen meist zwingend die Todesstrafe vorschrieb, sprachen die Gerichte im Zeitraum 1825-1831 mehr als 9.300 Todesurteile, eine erschütternde Zahl; nicht weniger als 96 Prozent wurden jedoch im Gnadenweg umgewandelt. Eine systematische Milderungsfunktion erfüllte das königliche Begnadigungsrecht auch in Preußen, vor allem in der neu erworbenen Rheinprovinz, wo noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das gegenüber dem preußischen Allgemeinen Landrecht wesentlich schärfere napoleonische Strafgesetzbuch galt: Gnade beschleunigte hier die faktische Rechtsangleichung. Aber auch im republikanischen Preußen der späten 1920er Jahre ergingen jährlich um die 4.000 Gnadenerweise, nicht eingerechnet mehrere Zehntausend „bedingte Begnadigungen“ (Strafaussetzungen auf Bewährung), welche die Gerichte mittlerweile selbständig gewähren durften. In England hingegen ging der Einsatz der Royal Prerogative of Mercy seit Mitte des 19. Jahrhundert stark zurück, und mit einem free pardon, einer vollständigen Begnadigung, konnten fast nur noch Verurteilte rechnen, deren Unschuld sich nachträglich herausstellte. Obwohl selten, verweisen solche Fälle auf eine weitere essentielle Funktion des Begnadigungsrechts in Rechtsräumen mit mangelnden justizimmanenten Berufungsmöglichkeiten: Gnadengesuche boten oft die einzige Chance, Fehlurteile anzuprangern.

Summarischer Gnadenerlass des preußischen Königs Wilhelm I. vom August 1870 anlässlich des Deutsch-Französischen Krieges (Justiz-Ministerial-Blatt).

Von Begnadigungen zu unterscheiden sind streng genommen Amnestien, die ganze Kategorien von Straftaten ohne Einzelfallprüfung adressieren. Im 19. Jahrhundert noch häufig von Monarchen zu feierlichen Anlässen wie Thronwechseln oder Jubiläen erlassen, wurden sie zunehmend aus dem Begnadigungsrecht des Staatsoberhaupts herausgelöst und in die Kompetenz der Gesetzgebung verlagert, so bereits 1875 in der Dritten Französischen Republik. Doch eindeutig ist die Trennung nicht überall, wie Trumps Generalpardon für alle am Sturm aufs Kapitol Beteiligten gerade wieder gezeigt hat. Und auch Amnestiegesetze sind häufig hoch umstritten: Ist der pauschale Straferlass eine noble Geste, die der gesellschaftlichen Versöhnung dient, oder vertieft er Gräben durch neues Unrecht? Besonders intensiv wurde in den letzten Jahrzehnten über Amnestien im Gefolge von Gewaltregimen und Menschenrechtsverletzungen seit dem Zweiten Weltkrieg diskutiert. Doch nicht immer waren die Kontexte so düster: Kollektivbegnadigungen spielten auch eine wichtige Rolle nach den im 19. und frühen 20. Jahrhundert so häufigen Volkstumulten und Sozialprotesten.

Free Pardon für Alan Turing vom Dezember 2013, www.gov.uk.

Das individuelle Begnadigungsrecht ruht derweil bis heute bei den Staatsoberhäuptern (oder den von ihnen beauftragten Instanzen), und obwohl es nur sporadisch Schlagzeilen macht, erinnern prominente Einzelfälle auch in Europa hin und wieder an seine anhaltende Relevanz als Kristallisationspunkt für gesellschaftliche Gerechtigkeitsdebatten. Erwähnt sei etwa der posthume free pardon im Namen der britischen Königin Elizabeth II. 2013 für Alan Turing: Der brillante Mathematiker war durch die Entschlüsselung des Enigma-Codes im Zweiten Weltkrieg zum Helden avanciert, 1952 aber wegen homosexueller Aktivität strafrechtlich verurteilt und dadurch in den Selbstmord getrieben worden. Eine breite öffentliche Kampagne forderte seine Rehabilitierung; ob aber der Pardon das geeignete Mittel sei, um die frühere Kriminalisierung von Homosexualität als Unrecht anzuerkennen, blieb umstritten. Eine noch breitere Solidaritätskampagne drängte den französischen Staatspräsidenten François Hollande 2016 zur Begnadigung von Jacqueline Sauvage, einer Frau, die wegen Mordes an ihrem gewalttätigen Ehemann zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Kontroversen löste der präsidiale Entscheid unter anderem deswegen aus, weil er sich über nachdrückliche Bedenken der Justiz hinwegsetzte. Solche Fälle illustrieren, in welch komplexem Spannungsfeld von wandelbarem Recht, symbolischer Herrschaftsrepräsentation, öffentlichen Erwartungen und tragischen Einzelschicksalen sich das Begnadigungswesen auch heute noch bewegt. Der Grat zwischen Willkür und ausgleichender Gerechtigkeit bleibt schmal.

In der historischen Erforschung der Begnadigungspraxis klaffen allerdings noch große Lücken, besonders mit Blick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert, also die Epoche, in der sich die moderne Rechtsordnung mit ihren Grundprinzipien der Rechtsgleichheit und Gewaltenteilung entfaltete. Mein Forschungsprojekt am Käte Hamburger Kolleg will zur Schließung dieser Lücken beitragen.

Zitieren als:
Althammer, Beate, Begnadigung – ausgleichende Gerechtigkeit oder Willkürakt?, EViR Blog, 18.02.2025, https://www.evir.uni-muenster.blog/begnadigung/.

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