Interview mit Dorothea Schulz über religiöse Vielfalt in Afrika
Soeben hat die Bundesregierung den Abzug der Bundeswehrtruppen aus Mali beschlossen. Frankreich und andere Länder haben diesen Schritt bereits vollzogen und ihren Militäreinsatz beendet. Aus europäischer Perspektive wird das Land vor allem als Krisenherd wahrgenommen, wobei es die gesellschaftlichen und (rechts-)historischen Hintergründe des gegenwärtigen Konflikts nur selten in den medialen Diskurs schaffen.
Wenige hierzulande kennen Mali so gut wie Dorothea Schulz. Die Anthropologin forscht seit langem zu Religion und insbesondere zum Islam in Afrika und hat viele Forschungsaufenthalte vor Ort absolviert. Im Sommersemester 2022 war sie Münster-Fellow am Käte Hamburger Kolleg, um ihre Forschungen zu religiöser Vielfalt in Mali sowie in Uganda voranzutreiben. Dabei hat sie nicht nur selbst von den disziplinenübergreifenden Gesprächen mit ihren Mitfellows profitiert, sondern den Kollegsdiskussionen wichtige Impulse zur anthropologischen Dimension von Rechtseinheit und -vielfalt verliehen. Im Interview schildert sie die religiösen Gemengelagen in Mali und Uganda sowie den rechtlichen Umgang mit dieser Vielfalt. Außerdem geht es um die daraus erwachsenden Konflikte zwischen den Befürwortern staatlicher Rechtseinheit sowie den Verteidigern partikularer Rechte.
Prof. Dr. Dorothea Schulz ist Professorin am Institut füt Ethnologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Ihre Forschungen umfassen die Anthropologie der Religion, der psychischen Gesundheit und des spirituellen Wohlbefindens, politische Anthropologie, Islam in Afrika, Gender Studies und Media Studies. Als Mitglied der WWU absolvierte sie im Sommersemester 2022 ein Münster-Fellowship am Käte Hamburger Kolleg, um sich an den hiesigen Forschungsdiskussionen zu beteiligen.
Frau Professorin Schulz, was hat Sie als Anthropologin gereizt, ein Semester als Fellow am Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“ zu verbringen? Und wie empfinden Sie die hier geführten Diskussionen?
Zunächst einmal bin ich keine Rechtsanthropologin im eigentlichen Sinne. Allerdings habe ich in dieser Richtung geforscht, denn eines meiner Spezialgebiete war immer die politische Anthropologie und die Anthropologie des Staates, und man kann über diese Themen nicht nachdenken, ohne auch die rechtliche Perspektive einzunehmen. Daher habe ich mich sehr gefreut, als mich die Direktoren des Kollegs fragten, ob ich Interesse hätte, als Münster Fellow am Kolleg zu arbeiten. Zum einen finde ich die thematische Ausrichtung des Kollegs hoch interessant. Zum anderen gefällt mir der interdisziplinäre Ansatz des Kollegs, der Rechtswissenschaft und Geschichte zusammenbringt und damit eine komplementäre Perspektive dazu bildet, wie diese Themen bisweilen in der Anthropologie behandelt werden.
Und in der Tat profitierte ich am Kolleg am meisten von den Diskussionen mit denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die aus einer historischen oder juristischen Perspektive argumentieren. Wenn man von außen auf die außereuropäischen Gesellschaften blickt, die wir als Anthropologen untersuchen, neigt man dazu zu sagen: „Das ist eine andere Kultur“. Aber wenn man sie aus einer historischen Perspektive betrachtet, stellt man fest, dass bestimmte Aspekte nicht so sehr eine Frage kultureller Unterschiede sind, sondern auf regional spezifischen historischen Transformationen wie etwa Staatsbildungsprozessen basieren und oft davon abhängen, wie eine Gesellschaft organisiert ist.
Es ist interessant, dass Sie das sagen, denn auf der anderen Seite haben die Historiker in den letzten Jahrzehnten methodisch eine ganze Menge von den Anthropologen gelernt, nicht zuletzt die Berücksichtigung von Kultur.
Ja, ich weiß. Meine Ausbildung verlief an der Schnittstelle zwischen Anthropologie und Geschichte, und da habe ich gemerkt, dass beide Disziplinen viel voneinander lernen können. Denn im Umkehrschluss neigen Historiker dazu, bestimmte Phänomene als besondere historische Merkmale ihrer eigenen Gesellschaft zu betrachten. Wenn sie aber andere Kontexte betrachten, stellen sie fest, dass diese auch in zeitgenössischen Gesellschaften zu finden sind, eben weil sie mit bestimmten Staatsformen verbunden sind.
„Die gegenwärtigen Vorgänge in Mali sind Entwicklungen der letzten zehn Jahre“
Sie beschäftigen sich mit modernen afrikanischen Gesellschaften, insbesondere mit denen von Mali und Uganda. In Deutschland wissen wir relativ wenig über diese Länder. In den Nachrichten tauchen sie, wenn überhaupt, meist im Zusammenhang mit Terrorismus oder Armut auf. Was fasziniert Sie an diesen Ländern?
Eigentlich wollte ich ursprünglich nach Chile gehen, dann habe ich eine Zeit lang Türkisch gelernt, mich also für ganz andere Weltregionen interessiert. Dann kam ich rein zufällig zum ersten Mal nach Mali und es hat mir dort unglaublich gut gefallen. Ich habe mich sehr für Musik interessiert und was mich anfangs an der malischen Gesellschaft reizte, war, dass es dort eine sehr ausgeprägte Musikkultur gibt. Und diese spezielle Musik, für die ich mich interessierte, wurde seit der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren für politische Zwecke genutzt. So kam ich zur Politik und zur Anthropologie des Staates. Daraus ist eine jahrzehntelange Verbundenheit mit und Liebe zu Mali und den Menschen dort erwachsen.
Die dramatischen Nachrichten über die gegenwärtigen Vorgänge in Mali sind Entwicklungen der letzten zehn Jahre. Tatsächlich war Mali in den frühen 1990er Jahren einer der Geber-Lieblinge und ein Modellstaat für vermeintlich erfolgreiche Demokratisierungsprozesse. Es war also nicht immer dieser imaginäre Tragödienschauplatz. Der Grund, warum ich auch jetzt noch dort arbeite, obwohl es immer gefährlicher wird, ist, dass ich häufig das Gefühl habe, dass die Darstellungen in der Literatur und vor allem in den internationalen Medien äußerst einseitig und selektiv sind. Außerdem mangelt es an Verständnis für die langfristigen historischen Prozesse, die zu dem geführt haben, was jetzt vor sich geht. Ich denke, wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tragen die Verantwortung, Mali – und auch Länder wie Uganda – anders darzustellen. Natürlich hat Uganda schreckliche Zeiten mit Bürgerkriegen und religiös fundierten Konflikten durchlebt, aber das ist eben nicht das ganze Bild.
In Mali beobachten Sie eine Tendenz zur Islamisierung, die zunehmend auch die staatliche Gesetzgebung erfasst. Welche Rolle spielen islamische Rechtsvorstellungen bei der schleppenden Reform des Familienrechts?
Im Zuge dieses Islamisierungsprozesses wenden sich die Menschen einer strengeren Auslegung der „richtigen“ islamischen Religionsausübung und der rechtlichen Vorschriften zu. Dieser Prozess vollzieht sich seit den 1980er Jahren im gesamten subsaharischen Afrika sowie im Nahen Osten. In diesen Ländern bilden Muslime die Mehrheit. Man kann den Islamisierungsprozess – d. h. die Tatsache, dass Menschen, die sich seit jeher als Muslime verstanden haben, sich plötzlich für eine strengere Anwendung der islamischen Regeln entscheiden – nicht unabhängig von umfassenderen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen verstehen. Zum Teil ist dies auf den Einfluss von Missionsgruppen zurückzuführen, die in den 1980er und 1990er Jahren aus dem arabischsprachigen Raum kamen, aber seither ist die Islamisierung zu einem lokal verankerten Prozess geworden.
Der politische Islam wird von einer sehr heterogenen Ansammlung verschiedener Gruppen repräsentiert, die unterschiedliche Auffassungen von Strenge vertreten. Allen gemeinsam ist jedoch das Ziel, dass islamische Vorschriften, Regeln und Moralvorstellungen die Grundlage für das Gemeinwohl bilden sollen.
Der Konflikt begann, als westliche Geberorganisationen eine Gesetzesreform vorantrieben und forderten, dass Mali seine Gesetze an die internationalen Menschenrechtskonventionen anpassen solle. Es gab eine besondere Machtkonstellation zwischen westlich orientierten Intellektuellen, die tatsächlich für die Einhaltung der Menschenrechte eintraten, und Muslimen, die versuchten, strengere islamische Vorschriften durchzusetzen. Diese verschiedenen muslimischen Gruppen waren sehr geschickt darin, eine breite Opposition gegen die ursprünglich vorgeschlagene Reform zu mobilisieren, und drängten sie schließlich auf die islamische Seite. Aber der Konflikt dauert noch an. Die Kluft zwischen den internationalen Menschenrechtsstandards und den Bestimmungen des Familienrechts besteht nach wie vor, da bislang keine Einigung erzielt werden konnte.
„Die Kluft verläuft quer durch den Staat“
Es gibt also eine Kollision zwischen islamischem Recht und Menschenrechtsstandards. Welche Position nimmt der Staat in diesem Zusammenhang ein?
Das ist eine interessante Frage. Ich meine, so formulieren es zumindest viele Aktivisten: als Gegensatz zwischen den wahren islamischen Traditionen Malis und den kulturellen Werten des Westens, wie sie in den allgemeinen Menschenrechten und zum Teil in der nationalen Verfassung verankert sind.
Aber ich habe diese Debatten in den späten 1990er- und 2000er-Jahren verfolgt, und man konnte sehen, dass der Staat nicht in einheitlicher Weise reagierte. So gab es beispielsweise zeitweise Bündnisse zwischen Vertretern muslimischer Dachverbände und Mitgliedern des Innenministeriums gegen weibliche Vertreterinnen des Ministeriums für Frauen und Familie. Die Kluft verläuft also quer durch den Staat.
Wohin wird der Rechtsreformprozess in Zukunft führen?
Schwer zu sagen. Im Moment steckt Mali in großen Schwierigkeiten, und wer weiß, wie sich die Situation weiterentwickeln wird. Im Grunde geht es um die politische Zukunft Malis und darum, ob es dem derzeitigen Militärregime oder einer anderen Regierung gelingen wird, das Land zusammenzuhalten und all die militanten Gruppen zu kontrollieren, die überall an den Rändern des Staates auftauchen. Die Entwicklung der rechtlichen Situation lässt sich nicht unabhängig davon betrachten.
Außerdem klaffte schon immer eine große Lücke zwischen dem, was auf dem Papier steht, und dem, was tatsächlich angewandt wird, insbesondere im Bereich des Familienrechts. Das war ein Grund dafür, warum muslimische Aktivistinnen argumentierten, was aus ihrer Sicht überhaupt geregelt werden sollte. Denn sie wiesen darauf hin, dass Frauen auf dem Land durch die Gesetzesänderungen überhaupt nicht mehr geschützt werden würden. Und tatsächlich haben die westlich orientierten Frauenrechtlerinnen eine Reihe von Gesetzesänderungen unterstützt, die den Frauen der Mittel- und Oberschicht in den Städten zugutegekommen wären, aber nicht die Situation der Frauen in den ländlichen Gebieten berücksichtigten. Dort haben Frauen nur sehr begrenzte Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen, weil es kaum oder gar keine gerichtliche Infrastruktur gibt, an die sie sich wenden könnten.
Ich denke daher, dass es keinen Sinn macht, das Problem nur im Hinblick auf diesen Rechtsreformprozess oder die staatliche Gesetzgebung zu betrachten. Und das führt uns natürlich zur Frage des Rechtspluralismus oder der Rechtspluralität, wie ich lieber sage.
So ist es. Mit Blick auf Religion unterscheiden Sie zwischen religiöser Pluralität als der bloßen Tatsache, dass es in einem bestimmten Gebiet verschiedene religiöse Gruppen gibt, und religiösem Pluralismus als einer – positiven? – Einstellung dazu. Würden Sie sagen, dass diese Differenzierung auch im Falle des Rechtspluralismus hilfreich sein könnte?
Das ist eine sehr interessante Frage, auf die ich keine endgültige Antwort habe, die ich aber gerne mit den anderen Fellows diskutieren würde. Im Falle des religiösen Pluralismus treffe ich diese Unterscheidung, weil der Großteil der Forschungsliteratur ein normatives Argument darüber enthält, wie Menschen zusammenleben und so etwas wie religiöse Toleranz praktizieren sollten. Ich hingegen denke, dass sich religiöse Pluralität auf die bloße Tatsache bezieht, dass es verschiedene religiöse Gruppen gibt. Außerdem unterscheide ich zwischen der Pluralität zwischen und der Pluralität innerhalb von Religionen. Ersteres bedeutet, dass es in einer Gesellschaft verschiedene religiöse Traditionen gibt, zum Beispiel in Uganda, wo Christen, Muslime, Juden und Bahai leben. Die Pluralität innerhalb einer Religion bezieht sich dagegen auf Settings, in denen es beispielsweise Muslime mit völlig unterschiedlichen Ausrichtungen gibt. Wenn wir also von religiöser Pluralität sprechen, müssen wir bedenken, dass es unterschiedliche intersektionale Dynamiken gibt.
Im Gegensatz dazu bezieht sich religiöser Pluralismus nicht nur auf die Feststellung, sondern auf die Akzeptanz von normativen Unterschieden. Man könnte sagen: „Auch wenn ich nicht an das glaube, woran du glaubst, ist es doch genauso legitim.“ Religiöser Pluralismus bezieht sich also auf eine bestimmte Haltung, aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Unterscheidung auch im Hinblick auf Rechtspluralität und Rechtspluralismus Bestand hat.
„In der britischen Kolonialherrschaft wurde der Grundstein für viele der nachfolgenden Konflikte gelegt“
Zurzeit untersuchen sie den Umgang mit religiöser Vielfalt in Uganda. Wie stellen sich die Verhältnisse in diesem Land dar?
Uganda ist in Bezug auf regionale, ethnische, sprachliche und religiöse Unterschiede viel komplizierter als Mali. Außerdem hat das Land eine noch viel konfliktreichere und blutigere Geschichte, die auf die britische Kolonialherrschaft zurückgeht, wo der Grundstein für viele der nachfolgenden Konflikte gelegt wurde.
Zunächst einmal gibt es eine muslimische Minderheit, die jedoch keineswegs in sich homogen ist. Die Mehrheit ist sunnitisch, es gibt eine schiitische Minderheit, innerhalb derer es wiederum die Ismailiten gibt und so weiter. Es existieren im Land sogar verschiedene muslimische Rechtsschulen darunter zwei sehr bekannte. Das hat etwas mit den unterschiedlichen Wegen zu tun, auf denen der Islam ins Land kam. Ursprünglich kamen die Muslime aus dem Sudan und hingen hauptsächlich der Mālikī-Rechtsschule an. Diejenigen, die über die Handelsrouten von der tansanischen und kenianischen Küste kamen, brachten hingegen ihre eigenen Rechtstraditionen mit.
Außerdem gibt es unter den Muslimen eine große Spaltung entlang der Generationsgrenzen. Das begann in den 1990er Jahren mit einer Gruppe junger Männer, die Stipendien für ein Studium in der arabischen Welt erhielten. Sie kamen mit dem Bemühen um religiöse Reformen zurück, die sich gegen ihre eigenen Väter richteten, die ihrer Meinung nach einen falschen Islam praktizierten. Der Islam selbst ist also keineswegs homogen.
Dann gibt es natürlich die christliche Mehrheit, aber auch hier gibt es zahlreiche verschiedene Gruppen wie Katholiken, Anglikaner als vorherrschende protestantische Konfession, Evangelikale, Siebenten-Tags-Adventisten, Baptisten und so weiter.
Wie wird diese Religionsvielfalt rechtlich geregelt?
Zunächst einmal gibt es das Verfassungsrecht, aber es ist entscheidend, darauf zu schauen, was tatsächlich praktiziert wird. Es gibt zum Beispiel Scharia-Gerichte für Familienangelegenheiten, aber in der Praxis gehen nur sehr wenige Menschen dorthin, weil sie nicht funktionieren. Außerdem gibt es unterschiedliche Familienrechte für verschiedene religiöse Gruppen. Und es gibt diverse Auseinandersetzungen um eine Gesetzesreform, weil einige muslimische Gruppen fordern, nach islamischem Recht behandelt zu werden. Bislang ist dies jedoch nicht wirklich kodifiziert worden. Ein weiterer Diskussionspunkt, ähnlich wie in Mali, ist die Tatsache, dass es in Uganda eine große Vielfalt an regionalen Gewohnheitsrechten gibt, und es stellt sich die Frage, wie diese mit islamischen Normen zusammenhängen.
In diesem Prozess der Vereinheitlichung und Rationalisierung des Rechts in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards gibt es verschiedene Interessengruppen – nicht nur Muslime –, die dies ablehnen. Ein großer Konflikt ist immer wieder das Thema Erbschaft und Scheidung. Man kann sich leicht vorstellen, dass ältere Männer und Frauen ganz unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wie das zu regeln sei. Alles auf einen Konflikt zwischen Muslimen und westlich orientierten Säkularisten zu reduzieren, würde also in die Irre führen.
Würden Sie der Beobachtung zustimmen, dass das Familienrecht besonders häufig von rechtlicher und normativer Pluralität betroffen ist? Wenn ja, was sind die Gründe dafür?
Ich denke, das liegt daran, dass die Fragen, um die es hier geht, und die Probleme, die gelöst werden müssen, von Region zu Region unterschiedlich sind. In den postkolonialen Gesellschaften, die sich zu eigenständigen Staaten entwickelt haben und dabei völlig unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und rechtlichen Traditionen, Normen und Werten integriert haben, gibt es ein Sammelsurium an verschiedenen Möglichkeiten, strittige Fragen zu regeln. Und dann beginnen natürlich die Probleme – nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb dieser Gruppen.
Wenn man sich diese diversen Gesellschaften ansieht, gewinnt man den Eindruck, dass ein gewisses Maß an Rechtspluralismus ein sehr passendes Modell für sie ist. Wer hat überhaupt ein Interesse daran, Recht zu vereinheitlichen?
Ich würde sagen, nur bestimmte Repräsentanten des Staates, während andere sich bisher dagegen gesträubt haben. Ein Beispiel: In Mali sind Erbschaft, Heirat und bestimmte andere Bereiche des Personenstandsrechts deshalb nie gesetzlich geregelt worden, weil die lokalen Eliten sich dagegen gesträubt haben. Stattdessen wollten sie alles offenlassen, damit mehr Raum für Verhandlungen aber auch für Winkelzüge bleibt, um beispielsweise einen größeren Anteil am Erbe zu erhalten. Ein weiterer wichtiger Streitpunkt war die Polygamie und die Frage, ob ein Ehemann zu einem späteren Zeitpunkt beschließen kann, seine Ehe in eine polygame Ehe umzuwandeln. Sie können sich vorstellen, wie groß die Kluft zwischen denjenigen war, die die Ehe gesetzlich regeln wollten, und denjenigen Männern, die dies ablehnten.
„In vielen Ländern sind es Frauenrechtlerinnen, die sich für die Angleichung der lokalen oder nationalen Rechtsnormen an die internationalen Standards einsetzen“
Ist es also auch eine Frage der Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, wenn für alle die gleichen Regeln gelten?
Selbstverständlich. In vielen Ländern sind es Frauenrechtlerinnen, die sich für die Angleichung der lokalen oder nationalen Rechtsnormen an die internationalen Standards einsetzen. Dann gibt es andere, die strikt dagegen sind, und die beziehen sich beileibe nicht alle auf den Islam. Es gibt auch Christen, die sehr konservative Gender-Ideologien artikulieren. Ich will nicht bestreiten, dass es Menschen gibt, die zutiefst moralisch oder religiös motiviert sind, aber das bedeutet nicht, dass es keine politischen oder materialistischen Nebeneffekte gäbe, die ihnen gelegen kommen würden.
Auch in den zunehmend pluralen westlichen Gesellschaften wird diskutiert, wie mit unterschiedlichen sozialen oder religiösen Gruppen umgegangen werden soll. Könnte die Anerkennung bestimmter Partikularrechte durch den Staat hier zu einer Lösung beitragen?
Ich denke, zum Teil geschieht dies bereits. Aber es geht sicher nicht darum, ob es möglich ist oder nicht, sondern darum, es in einen größeren politischen Kontext zu stellen. In Subsahara-Afrika kann man sehen, dass der Partikularismus zentrifugale Tendenzen verstärkt. Außerdem stellt sich stets die entscheidende Frage, wer diese Gemeinschaften repräsentiert. Wenn man sich afrikanische Verhältnisse ansieht, stellt man oft fest, dass bestimmte Personengruppen – meist sind es ältere Männer – eine Gemeinschaft repräsentieren und ihre Werte und Normen bestimmen. Es gibt aber nun einmal diese internen Unterschiede, und deshalb bin ich immer etwas vorsichtig, wenn irgendjemand behauptet, ein kulturelles Erbe zu verteidigen. Ich habe eingangs die Staatsbildungsprozesse erwähnt. Wenn man Historikerinnen und Historikern zuhört, wird einem klar, dass es immer wechselnde Tendenzen und Trends gegeben hat. Ich denke, es geht immer darum, ein Gleichgewicht zu finden zwischen einem gewissen Maß an Rationalisierung und Bürokratisierung, das notwendig ist, um ein Grundmaß an Gleichheit zu gewährleisten, und einer Pluralisierung, die Raum für unterschiedliche moralische Haltungen lässt.
Die Fragen stellte Lennart Pieper.
Zitieren als:
Dorothea Schulz/Lennart Pieper: „In Subsahara-Afrika verstärkt der Partikularismus zentrifugale Tendenzen“. Interview, EViR Blog, 29.11.2022, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewschulz/.
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