Interview mit Susanne Lepsius über das Recht im Mittelalter
Susanne Lepsius hat sich viel vorgenommen: Am Kolleg arbeitet sie an einem Überblicksband, der Leserinnen und Leser ohne juristische Vorkenntnisse in das weite Thema „Recht im Mittelalter“ einführen soll. Eine wichtige Grundlage bildet dabei ihr kurz vor dem Abschluss stehendes Editionsprojekt zum ältesten Glossenapparat der Konstitutionen von Melfi, einem Gesetzestext Kaiser Friedrichs II. für das Königreich Sizilien. Schon im 13. Jahrhundert begannen sogenannte Glossatoren damit, die herrscherlichen Erlasse in eine bestimmte Ordnung zu bringen und mit bestehendem Recht abzugleichen. Die editorische Arbeit von Lepsius und ihrem Team bringt neue Erkenntnisse nicht nur über das konkrete Vorgehen der Glossatoren, sondern auch über die inhaltlichen Interessenschwerpunkte der staufischen Rechtswissenschaft hervor. Ein Gespräch über die vereinheitlichende Wirkung mittelalterlicher Juristen, die praktischen Herausforderungen bei der Edition von Glossen und den Stellenwert des Rechts in den Gesellschaften des Mittelalters.
Prof. Dr. Susanne Lepsius hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München den Lehrstuhl für Gelehrtes Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht inne. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen juristische Glossierungstechniken, mittelalterliche Gerichtspraxis und das europäische ius commune. Seit April 2022 absolviert sie ein einjähriges Fellowship am Käte Hamburger Kolleg.
Frau Professorin Lepsius, Sie sind seit April Fellow am Käte Hamburger Kolleg in Münster. Mit welchen Erwartungen haben Sie Ihr Fellowship angetreten und inwieweit haben sich diese bislang erfüllt?
Meine Erwartung war, dass man ein Jahr bekommt, um sich endlich mal wieder Forschungsprojekten widmen zu können, denn dafür ist man ja ursprünglich mal Professorin geworden. Und gerade in den letzten Jahren hatte durch die Corona-Umstände die ganze Neuorganisation von Lehre, Prüfungswesen, Ansprache und Organisation von Mitarbeitern derart im Mittelpunkt gestanden, dass man einen ziemlichen Tunnelblick entwickelt hat und gar nicht die Ruhe und Muße hatte, seinen Horizont zu erweitern. Deswegen war es aus meiner Sicht auch persönlich-biographisch extrem wichtig und ich bin sehr dankbar für dieses Jahr, das den Raum zum Denken und endlich auch mal wieder zum Lesen eröffnet. Das hat sich im letzten halben Jahr auch schon verwirklicht. Ich konnte zudem schon viele kleinere Projekte fertigstellen, die sich unter das Hauptthema „Recht im Mittelalter“ einordnen, und Material für das große Projekt sammeln. Der andere positive Effekt ist, dass ich hier mit vielen Kollegen etwa beim Mittagessen interessante Gespräche über gemeinsame Forschungsprobleme führen oder auch schnell mal ins Nachbarbüro herübergehen kann.
Eines Ihrer Teilprojekte aus dem Kosmos „Recht im Mittelalter“ beschäftigt sich mit den Konstitutionen von Melfi. Können Sie zunächst erläutern, worum es sich dabei handelt?
Dank eines Mitarbeiters, der ein Sachstipendium der DFG bekommen hat, konnte ich mich an dieses Editionsprojekt machen. Wir edieren den ältesten Glossenapparat der Konstitutionen von Melfi, den sogenannten Apparatus Vetus. Meine Aufgabe in diesem Projekt ist es, die juristischen Allegationen, also die Querverweise auf römisches, kanonisches oder langobardisches Recht aufzulösen, zu überprüfen und kritisch nachzuweisen. Das Projekt wird demnächst fertiggestellt, geht dann in den Druck und wird eventuell auch digital veröffentlicht.
Die Konstitutionen von Melfi waren von Kaiser Friedrich II. für sein Königreich Sizilien auf dem Hoftag von Melfi im Jahr 1231 erlassen worden. Der Begriff Konstitutionen war bewusst gewählt, weil sich Friedrich in der Nachfolge der antiken Kaiser sah, die viele Konstitutionen erlassen haben. Noch im Laufe von Friedrichs Regierungszeit sind auf späteren Hoftagen weitere Konstitutionen erlassen worden, sogenannte Novellen, womit ebenfalls an die antike Kaisertradition angeknüpft wurde. Unser Befund ist, dass eine besondere Aufgabe dieses ältesten Glossenapparats darin lag, die verschiedenen Konstitutionen zu systematisieren und in eine Reihenfolge zu bringen, also ein in sich geschlossenes Gesetzbuch daraus zu machen. Dieses könnte man als Liber Augustalis bezeichnen, obwohl der Begriff erst seit dem 19. Jh. nachweisbar ist.
„Friedrich ging es in erster Linie darum, den Justizapparat zu ordnen“
Was bewog Friedrich denn dazu – abgesehen vom Vorbild der antiken Kaiser –, die Konstitutionen zu erlassen?
Die Frage nach den Beweggründen Friedrichs ist schwierig zu beantworten, nicht zuletzt, weil sich so viel Historiographie daran angelagert hat. Man könnte etwa das Proömium zum Gesetzbuch heranziehen, in dem sich Friedrich vollmundig als „Vater der Gerechtigkeit“ und „Sohn des Rechts“ bezeichnet, weshalb er es als notwendig erachtet, zur guten Ordnung des Königreichs diese Konstitutionen zu erlassen. Aber das ist natürlich politische Propaganda. Wenn man sich die Regelungsbereiche der Konstitutionen anschaut, ging es ihm wahrscheinlich in erster Linie darum, den Justizapparat zu ordnen und den gerichtlichen Instanzenzug klarer zu organisieren. Die Historiographie hat diese Deutung sehr stark betont und Friedrich II., der als vermeintlich „erster moderner Mensch auf dem Thron“ immer schon die Fantasie der Historiker beflügelt hat, den Erlass einer Kodifikation zugeschrieben. Das war aber ganz sicher nicht, was er im Sinn hatte. Auch treffen die Konstitutionen nicht das, was wir als Rechtshistoriker heute unter einer Kodifikation verstehen, weil sie nicht den umfassenden Anspruch hatten, jeden Bereich zu regeln. Das Zivilrecht kommt beispielsweise kaum darin vor, schon eher das Strafrecht und eben das Justizwesen. Dabei ging es wahrscheinlich um eine Vereinheitlichung des Königreichs und um das Ausschalten lehnsrechtlicher Strukturen der großen Barone.
Vereinheitlichung war also schon das Ziel?
Eine Vereinheitlichung des Justizapparats, nicht aber des materiellen Rechts. Wir Juristen stellen uns Gesetze meist als Gesetzbücher vor und klopfen sie daraufhin ab, was alles, materiellrechtlich wie man sagt, geregelt sein sollte. Wenn man mit einer solch modernistischen Brille auf die Konstitutionen schaut, hat man natürlich Defizite zu konstatieren. Die zivilrechtlichen Regelungen müssten beispielsweise Erbrecht, Familienrecht, Personenrecht, Schuldrecht auch Handels- oder Kaufmannsrecht usw. umfassen – doch fast nichts davon findet sich hier. Auch beim Strafrecht finden sich nur ganz bestimmte Themen, z.B. Majestätsbeleidigung oder die Verfolgung von Häretikern. Dafür ist das enthalten, was wir heute als öffentliches Recht bezeichnen würden. So wird etwa eine Art Berufsethos für Apotheker formuliert, die keine schlechten Substanzen verkaufen dürfen oder nicht gleichzeitig Ärzte sein sollen.
Sie schreiben in Ihrem neuen Aufsatz, und das hat mich überrascht, es sei die „wichtigste Aufgabe des Königs als oberstem Gerichtsherrn, die Pluralität der Ordnungen und Gerichtsbarkeiten zu respektieren und zu garantieren“. Was meinen Sie damit?
Pluralität als eines der Leitthemen des Käte Hamburger Kollegs ist natürlich kein Begriff, der im Gesetzbuch auftaucht, aber wir können Pluralität mit Blick auf die Konstitutionen durchaus beschreiben. Friedrich wollte kein materielles Recht überstülpen. Vielleicht liegt sein Augenmerk deshalb so stark auf dem Verfahrensrecht, weil er ein sehr plurales Königreich zu regieren hatte: Es gab verschiedene Sprachgemeinschaften wie die lateinische, die griechische, die normannische und die arabische. Seit der Zeit der Völkerwanderung hatten zudem die Langobarden eine eigene Form der Rechtswissenschaft und damit eine alternative Rechtsordnung entwickelt. Wenn Friedrich vom ius commune in seinem Königreich spricht, meint er in der Regel nicht das gelehrte römische, sondern das langobardische Recht. Und dann gab es natürlich das Lehnsrecht und die Kirche mit ihrem kanonischen Recht. Friedrich hat etwa der Kirche einen eigenen Gerichtsstand zugestanden und konzediert, dass Kleriker nur in besonderen Fällen wie Kapitalverbrechen vor sein königliches Gericht zitiert werden durften. Er wollte eben nicht, wie Ernst Kantorowicz es beschrieben hat, staatliches Recht durchsetzen und andere Rechte nivellieren, sondern er und seine juristischen Berater mussten diese Vielfalt zur Kenntnis nehmen.
„Es ist spannend zu sehen, dass es schon so früh weitere rechtswissenschaftliche Zentren neben Bologna gab“
Kommen wir auf die Quellen selbst zu sprechen. Friedrich hatte nun die Konstitutionen erlassen und schon bald darauf beginnen die Glossatoren ihr Werk. Was genau tun die eigentlich?
Das können wir natürlich nur aus den erhaltenen Handschriften erschließen. Wir haben eine Leithandschrift, die wir edieren und die bereits vor 1270 entstanden ist. Im Grunde sieht diese genauso aus wie eine Glosse zum römischen oder kanonischen Recht, die seit dem 13. Jahrhundert eine bestimmte Form haben. Man spricht dabei von Klammerglosse: Der Gesetzestext, der zu behandeln ist, steht in zwei Spalten in der Mitte, während außen herum die Glossen angebracht werden. Diese sind durch kleine Buchstaben mit einzelnen Worten im Haupttext verzahnt, die unterstrichen oder mit einer bestimmten Farbe hervorgehoben werden, damit man sich orientieren kann, welche Glosse welches Wort im Haupttext erläutert.
Die Handschrift, die wir edieren, hat interessanterweise Seiten, die komplett voll mit Glossen sind, während andere nur ganz wenig glossiert wurden. Es gibt also Schwerpunkte im Interesse der Glossatoren, was von der Forschung bislang so nicht zur Kenntnis genommen wurde. Indem wir uns den ältesten Apparat vornehmen, betreten wir Neuland: Was erschien den ersten drei Glossatoren in staufischer Zeit als glossierungswürdig? Aus wissenschaftshistorischer Perspektive ist zudem spannend zu sehen, dass es schon so früh weitere rechtswissenschaftliche Zentren neben Bologna gab. Der wohl früheste der drei Glossatoren, Guisandus de Rubo, war ein Zeitgenosse des berühmten Bologneser Rechtsgelehrten Accursius.
Wer waren denn überhaupt diese Glossatoren und aus welchen Gründen verfassten sie ihre Glossen?
Das sagen uns die Glossatoren leider nicht, sie machen es einfach. Anders als in Bologna, so unsere Erkenntnis, machen sie es jedenfalls nicht zu Unterrichtszwecken. Es fehlen nämlich charakteristische Kennzeichen der Bologneser Glossen, z.B. die Ansprache eines Professors an ein Publikum, Streitigkeiten zwischen verschiedenen Rechtsschulen oder auch Worterklärungen. Die sizilianischen Glossatoren scheinen Rechtspraktiker gewesen zu sein. Sie bemühen sich darum, das von Friedrich II. in den Konstitutionen gesetzte Recht mit dem römischen Recht abzugleichen. Sie haben also ein Bedürfnis, das sizilianische Recht mit dem Recht zu verankern, das sie aus ihrem Studium aus Bologna kennen. Möglicherweise steht auch das Bestreben dahinter, es durch die Glossierung zu veredeln und aus der Peripherie Siziliens auf die gleiche Ebene wie Bologna zu heben. Aber das sind meine Interpretationen.
Vor welche praktischen Herausforderungen stellt so ein Editionsvorhaben?
Vor viele! Die Hauptherausforderung war – und ich bin stolz darauf, dass wir das gelöst haben –, dass wir einen modernen Editor auf XML-Basis nutzen und dafür ein eigenes Annotations- und Tagging-System entwickeln mussten. Bei der Leithandschrift, die wir ediert haben, war die Entzifferung teilweise wirklich schwierig. Gerade bei vollen Seiten, wo der Platz nicht gereicht hat, ließen die Schreiber ihre Glossen wild über mehrere Seiten laufen oder nutzten eine freie Seite weiter hinten. Da muss man erst einmal identifizieren, zu welcher zu kommentierenden Textpassage die jeweilige Glosse denn nun gehört. In Sizilien war man noch nicht wie in Bologna auf den Trick gekommen, dass man den Haupttext schrumpfen kann, so dass auf der Seite mehr Platz für den zugehörigen, umfangsreichen wissenschaftlichen Apparat untenherum bleibt.
Bei einer Edition muss man ja jeden Befund möglichst genau abbilden. Wie beschreibt man diese häufigen Überlaufphänomene? Man formuliert Sätze wie „Die Glosse zieht sich hin am Rand unten mit Verweisungszeichen bis Folio so und so…“. Daher hatte sich da bislang auch noch niemand herangewagt.
„Historiker sind auch Konkurrenten um Deutungen im Hinblick auf den Stellenwert des Rechts“
Erkenntnisse aus diesem Editionsprojekt sollen auch in einen von Ihnen geplanten Überblicksband zum Recht im Mittelalter fließen. Was hat Sie zu diesem Projekt bewogen und welche Leserschaft haben Sie beim Schreiben im Kopf?
Eigentlich bin ich eher der Typ, der lange analytisch-technische Aufsätze schreibt. Als die Anfrage kam, ein Lehrbuch für die Reihe „Oldenbourg Grundriss der Geschichte“ zu schreiben, habe ich darin auch eine literarische Herausforderung für mich gesehen. Außerdem haben mich, die ich ja auch Geschichte studiert habe, die interdisziplinären Ansätze gereizt. Für das Recht im Mittelalter sind die Historiker die natürlichen Ansprechpartner für mich, zugleich aber auch Konkurrenten um Deutungen im Hinblick auf den Stellenwert des Rechts. Juristen wie ich nehmen Recht natürlich sehr ernst, während es in der neueren Mediävistik Ansätze gibt, die eher davon ausgehen, dass vieles nur in den Büchern gestanden, aber wenig mit der Lebenswelt der Menschen zu tun gehabt habe.
Die Leserschaft der Reihe sind Geschichtsstudenten und zum Teil auch Professoren, die schnell auf die Deutungen des aktuellen Forschungsstandes zugreifen möchten. Das zwingt mich zu erläutern, was Recht und Rechtspraxis eigentlich sind, aber etwa auch, was sich Menschen im Mittelalter vom Recht versprochen haben.
Wie gedenken Sie den umfangreichen Stoff zu gliedern? Gibt es bestimmte Leitfragen, an denen Sie sich orientieren?
Es gilt natürlich ein riesiges Thema auf wenig Platz zu behandeln. Da hilft es mir, dass die Reihe sehr genaue Vorgaben zur Gliederung macht. Grob unterteile ich nach Epochen, wobei ich zwischen der Zeit des Frühmittelalters bis um das Jahr 1000, einer Übergangsphase bis ins 13. Jahrhundert hinein und dem Spätmittelalter unterscheide, wo eine starke Ausdifferenzierung hin zu einem wissenschaftlichen Recht erfolgte.
Im Mittelalter ist vor allem die Rechtswissenschaft über das Verfassen von Texten ein starker Vereinheitlichungsfaktor. Wenn die Juristen jedoch nach ihrem Studium in die Praxis gingen, fingen sie an, Rechtsaufzeichnungen und Statuten zu erlassen. Dadurch wird es in Europa unglaublich plural: Wir haben beispielsweise die Konstitutionen von Melfi, die Ordonnances der französischen Könige, es gibt überall unterschiedliche Statuten, auf die man sich beziehen kann. Und oben drüber ist diese Schicht von unglaublich mobilen Juristen, die im Laufe ihrer Karriere teils sehr unterschiedliche Körperschaften, Tätigkeiten und Milieus erleben, die aber mit einem sehr einheitlichen Mindset, dem ius commune, das sie an der Universität gelernt haben, an die Sache herangehen. Insofern kann man nicht allein epochenmäßig gliedern, sondern muss sehr genau nach Milieus differenzieren.
„Im Mittelalter versteht man unter Recht das, was vor Gericht gilt“
Sie sprachen vorhin vom Stellenwert des Rechts. Können Sie vielleicht schon eine vorläufige Antwort auf die Frage geben, welche Bedeutung Recht im Mittelalter hatte?
Recht ist in allen Epochen wichtig, und selbst im Mittelalter sind viele der vorhandenen Quellen Rechtsquellen, z.B. Königsurkunden. Auch Gerichtsentscheidungen gibt es bereits im Mittelalter, auch wenn sie noch nicht den argumentativen Stellenwert hatten, den sie heute haben. Im Mittelalter versteht man unter Recht das, was vor Gericht gilt, weil es einen starken Zwangscharakter hat. Aber es gibt nur selten, und wenn dann spät, Aufzeichnungen von Gerichtsverfahren. Daher wissen wir eigentlich nichts über das konkrete alltägliche Funktionieren eines Gerichts, das z.B. nach Sachsenspiegel-Recht urteilt. Wir haben lediglich den Sachsenspiegel und können uns vorstellen, dass das Alltagspraxis war.
Dennoch muss das Recht im Leben der Menschen einen sehr hohen Stellenwert gehabt haben. So hatte etwa jedes Dorf seine Gerichtslinde. Gerade vor dem Jahr 1000 gibt es Inseln schriftlichen Rechts auf einem Meer von oralem Recht, das es gegeben haben muss, das wir aber nicht mehr erschließen können. Als Historiker brauchen wir ja Quellen, um valide Aussagen treffen zu können. Aber es gibt Ausnahmen: So kann man für Oberitalien, wo es ab dem 11. Jahrhundert mit den Notaren eine Schicht von Leuten gibt, die Gerichtsentscheidungen aufgeschrieben haben, den Rechtsalltag ab etwa 1250 exemplarisch sehr genau rekonstruieren.
Sie stellen also trotz schwieriger Quellenlage die Rechtspraxis und nicht die Gesetzestexte selbst in den Mittelpunkt Ihres Lehrbuchs.
Ja. Das Buch soll sich ja auch an Nichtjuristen richten, und ein Zugang lässt sich aus meiner Sicht über die Frage finden, wann man eigentlich in seinem Alltagsleben mit Recht zu tun hat. So werfe ich etwa die Frage auf, was Leute dazu bringt, über die Alpen zu ziehen und in Bologna sieben Jahre lang Rechtswissenschaften zu studieren, und was sie anschließend in der Rechtspraxis aus ihrem angelernten Wissen machen. Dieser Transfer trägt natürlich dazu dabei, einen juristischen Diskurs zu etablieren, der bis ins Heilige Römische Reich reicht. Denn viele der Juristen werden gar nicht Richter, sondern Berater von Königen und Herrschern. Und im Konfliktfall – zum Beispiel Kaiser gegen Papst – geht der Kaiser zu seinen Juristen und lässt sich mit einem ganzen Arsenal juristischer Argumente bewaffnen, um mit der Kurie auf Augenhöhe zu sein, die dann kanonisches Recht dagegensetzt.
Man nimmt sich also die Argumente, die man braucht. Wie lässt sich dann entscheiden, welche Seite Recht hat?
Im Hinblick auf Rechtsvielfalt gibt es als Standardverfahren im mittelalterlichen Bologna bereits die Statutentheorie. Damit reflektieren die Juristen das Verhältnis der verschiedenen italienischen Stadtstatuten zum römischen ius commune, das an der Universität gelehrt wird. Zeitlich bewegen wir uns hier im 14. Jahrhundert, also in der dritten Epoche meines Buches, wo es bereits ein sehr differenziertes Rechtssystem mit wissenschaftlichen Juristen und Praktikern gibt, das dem ziemlich nahe kommt, was wir heute an Rechtspersonal kennen. Es gibt also Rechtsgutachten, aber entschieden wird letztlich von Gerichten je nachdem, auf welcher Ebene der Konflikt angesiedelt ist. Innerhalb einer Stadt gibt es eine Hierarchie der Gerichte, einen Instanzenzug. Konflikte zwischen Stadtstaaten kann der Kaiser entscheiden.
Schwierig wird es bei den Spitzenkonflikten der Zeit, also dem zwischen Kaiser und Papst, weil es keinen höchsten Richter gibt. Hier könnte man einen Vergleich zum heutigen Völkerrecht ziehen: Der Konflikt ist letztlich nicht juristisch lösbar, sondern wird auf dem Feld der Diplomatie oder des Krieges ausgetragen. So ist es im Prinzip bis heute: Die UNO kann zwar Empfehlungen aussprechen, aber es gibt keine Zwangsgewalt, wie wir es innerhalb eines Staatswesens kennen.
Die Fragen stellte Lennart Pieper.
Zitieren als:
Susanne Lepsius/Lennart Pieper: „Im Mittelalter ist die Rechtswissenschaft ein stärkender Vereinheitlichungsfaktor“. Inteview, EViR Blog, 03.11.2022, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewlepsius/.
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