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Was der Rechtsstaat niemals tun darf

Seit März 2020 leben wir mit Grundrechtseingriffen, die man in den sieben Jahrzehnten zuvor für schlechthin unvorstellbar gehalten hat. An allen Ecken und Enden gibt es Verbote, meistens eher verharmlosend „Regeln“ genannt. In vielfacher Hinsicht ist die Freiheit des Einzelnen damit beschränkt. Die Frage, was dies für das Staat-Bürger-Verhältnis bedeutet, bewegt die Gemüter. Der folgende Beitrag versucht anhand einiger Beispiele zu zeigen: Der freiheitliche Rechtsstaat sichert gerade durch Verbote und Rechtspflichten die grundsätzliche Vermutungzugunsten der Freiheit. Gefährlich wird es dagegen dann, wenn der Staat seinen Bürgern Verhaltensweisen erlaubt, Programmsätze verkündet und Ratschläge erteilt.

Dieser Befund ist nicht neu, er wird aber selten klar ausgesprochen. Besonders einprägsam formulierte Franz von Liszt den dahinterstehenden Grundsatz. Der namhafte Strafrechtler, ein entfernter Verwandter des gleichnamigen Komponisten, schrieb in der Zeit um 1900, das Strafgesetzbuch sei die „Magna Charta des Verbrechers“. Ausgerechnet das Strafgesetzbuch erinnerte Liszt an die englische Freiheitsurkunde von 1215. Darin sicherten sich englische Barone bestimmte Rechte gegenüber dem König. Später sah man in dem mittelalterlichen Herrschaftsvertrag eine frühe Wurzel der europäischen Menschenrechte.

Für Franz von Liszt führte genau diese freiheitliche Traditionslinie bis zum Strafgesetzbuch: Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt. Nur die im Gesetz geregelten Straftaten durften auch bestraft werden. Wenn also ein schleswig-holsteinisches Unternehmen in den 1890er-Jahren die Stromleitung anzapfte, elektrische Energie entzog und damit kostenlos seine Produktion betrieb, musste der Firmeninhaber trotzdem freigesprochen werden, weil Diebstahl nur an Sachen und nicht an Elektrizität möglich war. Der Staat musste erst ein neues Verbotsgesetz erlassen, um dem Stromklau für die Zukunft den Riegel vorzuschieben. Knapp einhundert Jahre später wiederholte sich dasselbe Problem: Der Missbrauch von EC-Karten ist weder Betrug noch Diebstahl und konnte lange Zeit nicht geahndet werden. Erst ein neuer Straftatbestand erhob das unerwünschte Verhalten zum kriminellen Unrecht.

Das Verhältnis von Freiheit und Verbot zeigt sich ebenfalls im Bürgerlichen Recht. Die Prinzipien des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind mit keinem Wort gesetzlich geregelt. Nirgendwo liest man eine Vorschrift über die Formfreiheit von Verträgen. Es heißt lediglich, dass ein Verstoß gegen zwingende Formvorschriften einen Vertrag nichtig macht. Auch die Inhaltsfreiheit von Verträgen sucht man im Gesetz vergeblich. Lediglich im Fall, dass die Parteien gegen gesetzliche Verbote oder die guten Sitten verstoßen, gibt es Nichtigkeitsgründe. Weitere Verbotsgesetze kamen in neuerer Zeit hinzu, aber der Grundsatz bleibt erkennbar. Solange der Staat keine Schranken aufstellt, können die Bürger ihre Rechtsbeziehungen untereinander regeln, wie sie möchten.

Bezogen auf Corona mag man ergänzen: Eine Maskenpflicht an bestimmten Orten oder in öffentlichen Verkehrsmitteln bedeutet, dass es genau außerhalb dieser Verbotszonen keine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung gibt. Es geht hier nicht darum, was besser
oder schlechter, sicherer oder riskanter ist, sondern lediglich um die Frage, wo hoheitliche Verbote greifen und wo nicht. Dies muss, ganz im Einklang mit der alten Einsicht Franz von Liszts, dem Bürger bekannt sein, damit er sich überhaupt daran halten kann. Ob eine Maskenpflicht als solche rechtmäßig oder politisch sinnvoll ist, lässt sich von der allgemeinen Vermutung zugunsten der Freiheit klar trennen. Die Voraussetzungen für einzelne Verbote bilden zusätzlich eigene rechtsstaatliche Hürden, die ihrerseits private Freiheitsräume offenhalten sollen. Die Schlagworte heißen Grundrechte, Gesetzesvorbehalt und Verhältnismäßigkeit. Um diesen weiteren Zusammenhang soll es hier aber nicht gehen, auch wenn die Wirkung genau dieser Hürden durch das Bundesverfassungsgericht deutlich geschwächt erscheint.

Die Beschränkung des freiheitlichen Staates auf Verbotsgesetze und Rechtspflichten klingt einfach und ist gerade darum unbequem. Moderne Gesetzgeber und Regierungen verstoßen in mindestens dreifacher Weise gegen das Prinzip: durch Erlaubnisse, durch Programmsätze und durch moralische Empfehlungen.

„Eine Maskenpflicht an bestimmten Orten bedeutet, dass es genau außerhalb dieser Verbotszonen keine Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung gibt.“ © Niklas Ohlrogge / Unsplash

Geschichte eines Dammbruchs

Einer der ersten Dammbrüche geschah im Herbst 2001 im Wohnungsmietrecht. Inmitten des Bürgerlichen Gesetzbuchs tauchte plötzlich der Satz auf: „Die Vertragsparteien können vereinbaren, dass der Mieter Betriebskosten trägt.“ Was sollte damit gemeint sein? Fast jeder Mieter zahlt Nebenkosten, das war auch zuvor völlig üblich. Der Staat nahm sich also das Recht, den Bürgern gesetzlich ein Verhalten zu erlauben, das ohnehin immer erlaubt und noch nie verboten war.

Kaum jemand nahm daran Anstoß. Doch dahinter stand unausgesprochen ein neues Prinzip. In einem völlig durchregulierten Gebiet wie dem Wohnungsmietrecht gibt es inzwischen praktisch nur noch staatliche Vorgaben. Die Restbereiche persönlicher Vertragsfreiheit sind kaum erkennbar. Da, wo sie noch vorhanden sind, weist der fürsorgliche Staat ausdrücklich darauf hin. Das Prinzip Freiheit ist verschwunden, wenn der Staat es unternimmt, die wenigen noch vorhandenen Entfaltungsräume ausdrücklich zu erlauben.

Dabei ist sprachliches Feingespür angebracht und dringend notwendig. Im Zusammenhang mit sächsischen Corona-Demonstrationen war selbst in öffentlich-rechtlichen Medien davon die Rede, die Versammlungen seien nicht genehmigt gewesen. An dieser Stelle sind Juristen gefordert. Denn ein Verhalten im Schutzbereich von Grundrechten kann gar nicht von Behörden erlaubt werden, weil es ohnehin bereits erlaubt ist. Verbote sind möglich, auch Verbote von Fackelaufzügen, niemals aber Erlaubnisse. Das ist der menschenrechtliche Kern von Grundrechten, den die englisch-amerikanische Tradition gern auf die oben erwähnten Magna Charta zurückführt.

Der Staat verunklart diese Grenze, wenn er selbst Erlaubnisse und Verbote miteinander vermengt. Das ist eine häufige Regelungstechnik von Coronaverordnungen. „Abweichend von den §§ 8 bis 11 sind Herbstmärkte und Weihnachtsmärkte nach den Absätzen 2 bis 9 zulässig“, heißt es in der niedersächsischen Verordnung (Fassung vom 23. November 2021). Geht es hier um prinzipielle Verbote oder um prinzipielle Freiheit? Die Vorschrift gibt darauf keine Antwort.

Geradezu kurios war eine inzwischen aufgehobene Regel in Nordrhein-Westfalen. Dort hieß es, der Betrieb von Autokinos sei während Corona erlaubt, wenn die Autos einen Mindestabstand von 1,5 Metern einhielten. Staatliche Erlaubnisse in einem Umfeld allgemeiner Verbote nannte man früher Privilegien. Es ist mehr als ein bloßer Zufall, dass beim Beginn der Impfungen die Diskussion über Privilegien für Geimpfte einsetzte. Wer mit Privilegien argumentiert, geht ganz zutreffend vom grundsätzlichen Verbot aus, das lediglich zugunsten Einzelner durchlöchert ist. Vom Mittelalter bis weit ins 18. Jahrhundert sind hierzu abertausende von Beispielen überliefert. Genau diese Auffassung verbreitete sich zu Beginn des Impfprogramms, wenn sie auch inzwischen etwas abgeklungen ist.

Die Beschränkung des freiheitlichen Staates auf Verbotsgesetze wird in der Praxis vielfach durch Programmsätze in Gesetzesform durchbrochen. Schon in der frühen Neuzeit gab es Lehrbücher mit Gesetzeskraft. Der Landesherr erließ nicht nur Vorschriften, sondern sagte in aller Weitschweifigkeit gleichzeitig, warum sein Vorhaben gut und richtig sei. Diese gesetzgeberische Lyrik ist im Rechtsstaat systemfremd und nicht notwendig. Kaum zufällig sind gerade EU-Richtlinien voll davon. Welche Erwägungen zu welcher Norm geführt haben, ist dort in seitenlangen Präambeln nachzulesen. Die Rechtshistorikerin Marie Theres Fögen brachte solche speziellen Formulierungen auf den Punkt und nannte sie anschaulich das „Lied vom Gesetz“.

Wenn der Staat Ratschläge gibt

Die Corona-Verordnungen folgen demselben obrigkeitlichen Mitteilungsbedürfnis. „Zur Fortsetzung der erfolgreichen Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie, zur Begrenzung des erneuten Anstiegs der Infektionszahlen und insbesondere zur weiteren Gewährleistung ausreichender medizinischer Versorgungskapazitäten werden mit dieser Verordnung Maßnahmen angeordnet, die die Infektionsgefahren wirksam und zielgerichtet eindämmen.“ Dieser erste Satz der nordrhein-westfälischen Verordnung hat keinerlei Regelungsgehalt. Der Normgeber lobt lediglich sich selbst für die Wirksamkeit und Zielrichtung seiner Maßnahmen und behauptet zugleich, die bisherigen Vorschriften seien erfolgreich gewesen.

Das klassische Ideal subsumierbarer Rechtsnormen ist nicht mehr erkennbar. Der Einzelne weiß kaum noch, was verboten und was unverboten ist. Genau diesen Graubereich macht der Verordnungsgeber sich zunutze: „Auch im Freien wird das Tragen einer Maske empfohlen, wenn ein Mindestabstand von 1,5 Metern zu anderen Personen nicht eingehalten werden kann.“ Der Staat empfiehlt hier Verhaltensweisen, ohne klar zu sagen, ob sie vorgeschrieben sind oder nicht. Ein Verordnungsgeber, der Verbote verhängt, ist an den Gesetzesvorbehalt und an das Übermaßverbot gebunden. Empfehlungen dagegen sind von diesen Schranken gelöst. Eine Kontrolle des staatlichen Handelns findet nicht statt, und die Art und Weise, ob und wie man solche Vorgaben befolgen muss, bleibt in der Schwebe.

Eine weitere Grenzlinie ist überschritten, wenn der Staat die erwünschten Verhaltensweisen gar nicht in Normen kleidet. Solche Ratschläge gehen damit über gesetzliche Empfehlungen hinaus. So riefen Mitglieder verschiedener Landesregierungen die Bevölkerung dazu auf, Weihnachten zu Hause zu bleiben und im kleinen Kreis zu feiern. Entsprechende Vorgaben sind in den Corona-Verordnungen aber nicht enthalten. Hat die Regierung als Exekutive, also als gesetzesausführende Gewalt, das Recht, das Verhalten ihrer Bürger durch derartige Ratschläge zu steuern? Ist es vielleicht sogar die Aufgabe von Politik, Wertmaßstäbe zu vermitteln und auf das Gute hinzuweisen? Oder gerät gerade dadurch die Grenze von Recht und Moral ins Wanken, die für die Abgrenzung von Staat und Gesellschaft so wichtig ist? Früher hieß es oftmals, das einzige, was man von der Bevölkerung in all ihrer Verschiedenartigkeit erwarten könne, sei Verfassungstreue. Dazu
gehört, dass man sich an rechtmäßig erlassene Gesetze hält. Darüber hinausgehende Loyalität zu fordern, dehnt den staatlichen Einflussbereich auf Kosten der Bürger aber immer weiter aus. Am Horizont zeichnet sich der paternalistische Wohlfahrtsstaat ab. Dieser Vater Staat meint es gut mit seinen Landeskindern. Aber dafür fordert er Zustimmung, die über Gehorsam hinausgeht.

Am Ende gerät das schöne Wort von der „Magna Charta des Verbrechers“ abermals in den Sinn. Franz von Liszt arbeitete nicht ohne versteckten Humor. Denn wer sich an staatliche Verbote hält, ist gerade kein Verbrecher, sondern ein Bürger, der den Rechtsstaat ernst
nimmt. Und dieser Bürger hat einen Anspruch darauf, dass der Staat die Grenzen seiner Verbote klar bezeichnet.

Dieser Beitrag ist zuerst auf www.welt.de erschienen.


Zitieren als:

Oestmann, Peter, Was der Rechtsstaat niemals tun darf, EViR Blog, 09.03.2022, https://www.evir.uni-muenster.blog/rechtsstaat/.

Lizenz:

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License.


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