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„Einer Norm zu folgen, bedeutete die andere zu verletzen“

Interview mit Hillard von Thiessen über frühneuzeitliche Normenkonkurrenzen und die Rolle des Rechts

Wer sich heutzutage nach einer Kneipenschlägerei und der darauffolgenden Anzeige wegen Körperverletzung damit herauszureden versuchte, er habe lediglich seine Ehre wiederherstellen wollen, hätte damit vor Gericht wahrscheinlich wenig Chancen. In der Frühen Neuzeit sah dies unter Umständen anders aus. Neben das obrigkeitliche Gewaltverbot trat hier die Erwartung des sozialen Umfeldes, ehrverletzende Beleidigungen nicht einfach auf sich sitzen zu lassen. Unterschiedliche Normen konnten also mitunter gleichzeitig gelten und handlungsleitend sein.

Mit der Ausbildung unterschiedlicher Normensysteme und ihrer gegenseitigen Konkurrenzstellung in der europäischen Frühen Neuzeit beschäftigt sich der Rostocker Historiker Hillard von Thiessen. Zuletzt erschien von ihm 2021 das Buch „Das Zeitalter der Ambiguität“, in dem er eine Vielzahl aktueller Forschungsthemen zu einem umfassenden Epochenbild bündelt. Als Fellow am Käte Hamburger Kolleg hat er dieses Bild nun noch weiter verfeinert.

Herr Professor von Thiessen, Sie haben in den vergangenen Jahren ein umfassendes Epochenporträt der Frühen Neuzeit als Zeitalter kultureller Ambiguität entwickelt. Können Sie noch einmal in wenigen Sätzen beschreiben, worin Ihrer Ansicht nach die Charakteristika dieser Epoche bestehen?

Die Frühe Neuzeit wird oft als sehr widersprüchlich beschrieben, ein Zeitraum, in dem sich in einer traditionellen, statisch gedachten hierarchischen Gesellschaftsordnung erstaunlich viele Dynamiken entfalteten, politisch, sozial, wirtschaftlich und konfessionell. Meines Erachtens liegt der Kern dieses Widerspruchs darin, dass frühneuzeitliche Gesellschaften auf der einen Seite einem Ideal von Reinheit und Eindeutigkeit folgten. Das heißt, dass die Zeitgenossen die Welt noch als eine von Gott geschaffene Einheit wahrnahmen, die letztlich (wie konnte es bei Gottes Schöpfung auch anders sein) harmonisch und widerspruchsfrei war – der wahre Glaube musste nur aus der richtigen Interpretation der göttlichen Offenbarung erkannt, die jeweils gültige Rechtsregel nur ermittelt, den jeweils angemessenen Tugenden nachgeeifert werden. Klare Regeln und Wahrheiten wurden durchaus gewünscht und vor allem auch energisch eingefordert. Aber genau dadurch entstanden auf der anderen Seite Widersprüche: Denn indem energisch die Befolgung der Regeln korrekten religiösen Verhaltens von konkurrierenden Konfessionskirchen postuliert wurde, indem die wachsenden Staatswesen das Leben ihrer Untertanen zu regulieren versuchten und indem Menschen sich auf den zunehmenden Konformitätsdruck ihrer sozialen Umgebung einzustellen versuchten, um Ansehen und Ehre zu wahren, entstanden normative Widersprüche und eben keine Eindeutigkeit.

Ein Beispiel: Ein frühneuzeitlicher Akteur, der von einem Nachbarn ehrverletzend beschimpft wurde, stand vor dem Problem, dass seine soziale Umgebung erwartete, dass er seine Ehre zur Not mit Gewalt verteidigte, während die Kirche das exakte Gegenteil lehrte und die weltliche Obrigkeit ebenfalls die Wahrung von Ruhe und Ordnung erwartete – unterschiedliche Handlungserwartungen also, die alle legitim waren. Doch einer Norm zu folgen, bedeutete die andere zu verletzen. Die Gesellschaft war also durch akute oder latente „Normenkonkurrenz“ gekennzeichnet. Denn es gab zwar viele klar formulierte Regeln, Gesetze und Ordnungen, aber noch keine klar darauf zugeschnittenen Handlungsfelder, in denen jeweils bestimmte Normen primär galten. Daher kam es immer wieder zu normativ schwierigen Situationen.

Doch frühneuzeitliche Akteure waren deswegen nicht in besonderer Weise innerlich zerrissen, sondern wussten damit umzugehen: Sie navigierten zwischen unterschiedlichen – sozialen, religiösen und gemeinwohlorientierten – Normen und entwickelten auf diese Weise eine ausgeprägte „Ambiguitätstoleranz“, eine grundlegende Fähigkeit, mit Normenkonflikten umzugehen, sie auszuhalten, zu ignorieren, zu überspielen oder für sich zu nutzen. Letztlich ging es dem durchschnittlichen Akteur in der Frühen Neuzeit darum, sein soziales Ansehen zu erhalten, dabei nicht ernsthaft mit der Obrigkeit in Konflikt zu geraten und sein Seelenheil nicht zu gefährden. Frühneuzeitliche Gesellschaften waren daher durch eine ausgeprägte „kulturelle Ambiguität“ gekennzeichnet, die modernen Menschen fremd erscheint, vor allem im Hinblick auf das abrupte Hin- und Herschalten zwischen Rollen, den geringen Wert von Individualität und persönlicher Authentizität sowie die Fähigkeit zum Hinnehmen von normativen Widersprüchen.

Jan Steen, Streit beim Kartenspiel, Gemälde 1664/65 (Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie) © Wikimedia Commons

Vor fast einem Jahr haben Sie Ihr Fellowship am Käte Hamburger Kolleg mit der Absicht angetreten, Ihr Konzept weiterzuentwickeln und insbesondere den Stellenwert des Rechts darin auszuloten. Wie weit sind Ihre Überlegungen in dieser Hinsicht gediehen?

Besonders anregend war für mich, im Kolleg in vielen Diskussionen und bei vielen Lektüren die Forschungstraditionen der in ihm vertretenen Fächer – neben meinem eigenen Fach, der Geschichtswissenschaft, die Rechtsgeschichte und die Kultur- und Rechtsanthropologie – zu vergleichen und dabei besonders darauf zu schauen, wie diese Fächer Normenordnungen und ihre Dynamiken untersuchen, welche Begriffe sie dabei verwenden und wie sich ihre Fachtraditionen entwickelt haben. Ein sehr wichtiger Punkt in meinem Konzept ist, dass die drei von mir idealtypisch zu verstehenden Normenordnungen gleichgewichtig zu betrachten sind; es werden also nicht staatlich gesetzte Normen a priori vor andere gesetzt, wie es in der älteren Historiographie zu finden ist. Die Rechtsgeschichte hat natürlich vor allem Rechtsnormen im Blick, aber es ist spannend zu sehen, wir sehr die Frage, wie sich Rechtsnormen im Gesamtgefüge von Normen verhalten, in das Zentrum des Forschungsinteresses gerückt ist. Hinzu kommt, dass die vormoderne Rechtsvielfalt ein Schlaglicht auf Pluralität und Geltungskonkurrenzen innerhalb eines Normensystems wirft, ein Aspekt, den ich stärker in mein Konzept eingebaut habe, das vor allem auf Konkurrenzen zwischen Normensystemen ausgerichtet war.

Im Fall der Kultur- und Rechtsanthropologie führen interessanterweise ähnliche Ausgangsprobleme, wie ich sie bei der Entwicklung des Konzepts der Normenkonkurrenz hatte, zu anderen begrifflichen Lösungen: Während ich zwischen unterschiedlichen Normensystemen unterscheide, verwenden viele Anthropologen einen breiten Rechtsbegriff, der praktisch gleichbedeutend mit kulturellen und sozialen Normen ist. Sie tun dies aus der Erwägung heraus, dass herkömmliche Norm- und Ordnungsvorstellungen in Gesellschaften, die das akademisch-europäische Recht nicht kennen oder in die es im Rahmen der Kolonialisierung erst hineingetragen worden ist, eine Ordnungs- und Weltdeutungsfunktion haben, die dem europäischen Recht nicht nachrangig ist. Daher die Verwendung des Begriffs „Recht“ für beide Sphären. Für europäische Gesellschaften, in denen es klare Unterschiede zwischen Rechtsnormen und sozialen Normen gibt (trotz einiger Überschneidungen) würde eine solche Verwendung heuristisch in die Irre führen. Ich denke, dass es hier zwei gut begründete, unterschiedliche Begriffsverwendungen gibt, die man im interdisziplinären Dialog halt berücksichtigen muss.

Steht das Recht nicht in gewissem Sinne über den von Ihnen beschriebenen Normensystemen, da es einen unbedingten Geltungsanspruch erhebt?

Wie schon in der Beantwortung der letzten Frage angedeutet: dezidiert nein! Denn wenn ich akteurszentriert vorgehe, d. h. von der Perspektive der Akteure ausgehe, von der Frage, wie Normen an Akteure herangetragen werden und wie diese damit umgehen, dann hat das Recht als Teil des (in meiner Diktion) gemeinwohlorientierten Normensystems tatsächlich keinen Vorrang. Denn alle Normensysteme traten in der Frühen Neuzeit Akteuren in der Weise gegenüber, dass sie auf legitime Werte gegründet waren, dass ihre Befolgung erwartet wurde und dass Nichtbefolgung Sanktionen nach sich ziehen konnte. Wenn dabei (bis zum frühen 18. Jahrhundert jedenfalls) ein Normensystem mehr Autorität beanspruchen konnte als ein anderes, dann war es das religiöse, nicht zuletzt, weil von ihm die stärksten Sanktionsdrohungen ausgingen: der Verlust der Seligkeit, also der Aussicht, den zweiten Teil des Lebenslaufs, das Ewige Leben, im Himmel zu verbringen. Und auch soziale Erwartungen hatten in frühneuzeitlichen Gesellschaften mit ihren geradezu synaptischen face-to-face-Beziehungen (und damit unmittelbaren Sanktionsdrohungen gegen Devianz) eine mindestens so große Autorität wie Rechtsnormen oder fürstliche Dekrete.

„Richter waren in der Frühen Neuzeit oft Meister der Kasuistik“

Die Frühneuzeitforschung diskutiert seit Langem über aus moderner Sicht unerklärliche Phänomene wie ineffiziente Gerichte, die selten ein Verfahren zum Abschluss brachten, oder landesherrliche Gesetze, die niemals durchgesetzt wurden. Welcher Logik folgte das vormoderne Justizwesen?

Im Grunde unterschiedlichen Logiken, oder anders formuliert: es handelte im Spannungsfeld der Normenkonkurrenz. Das Justitia blind sei, ist ja ein Anspruch, der auch in der Moderne nicht leicht umzusetzen ist, in der Frühen Neuzeit aber noch weniger. Denn von Richtern, die mitunter schon erhebliche Energie darauf verwenden mussten, zu entscheiden, welches Recht überhaupt gültig war, wurde erwartet, auch die Umstände, vor allem die sozialen, des Falles in Erwägung zu ziehen. Das bedeutete beispielsweise, zu überprüfen, ob ein bestimmtes Urteil eine Familie ins Elend stürzen würde, ob die Ehre des Angeklagten in zu starker Weise in Mitleidenschaft gezogen würde und ob gar die soziale Ordnung gefährdet werden würde. War das der Fall, fielen Urteile oft sehr milde aus, so milde, dass sich die Frage stellte, ob Gesetze überhaupt durchgesetzt werden sollten. Das ist aber nicht der Punkt: Gesetze wurden gemacht als ideale Lösungswege, die aber in der Urteilsfindung stets gewissermaßen durch das Säurebad der Kasuistik gehen mussten. War ein am Wortlaut des Gesetzes orientiertes Urteil wirklich angemessen? Waren wirklich alle Umstände und Folgen (die etwa über Suppliken an die Richter oder ihre fürstlichen Herren herangetragen wurden) bedacht worden? Deutlich wird an diesen Erwägungen, wie Recht in einer von kultureller Ambiguität geprägten Gesellschaft umgesetzt wird: es steht im Kräftefeld mit anderen Normen, was nicht heißt, dass es kraftlos oder geltungsschwach ist, sondern dass es in Abwägung zu anderen normativen Erwägungen umgesetzt wird. Nicht nur Beichtväter, auch Richter waren in der Frühen Neuzeit oft Meister der Kasuistik.

In Ihrem Buch „Das Zeitalter der Ambiguität“ konstatieren Sie ein Ende ebendieses Zeitalters um 1800. Damit sind Sie sich mit Thomas Bauer einig, der in der Moderne eine „Vereindeutigung der Welt“ am Werk sieht. Könnte man aus Sicht der Gegenwart nicht auch umgekehrt argumentieren, dass unsere von gesellschaftlicher Diversität und der Pluralisierung von Lebensformen geprägte Spätmoderne eine neue Normenvielfalt hervorbringt?

Ja, auch wenn angesichts der derzeit massiven normativen Spannungen in westlichen Gesellschaften die Gegenwartsdiagnose sehr schwierig erscheint. Vollkommen verschwunden ist die Normenvielfalt und -konkurrenz übrigens nicht einmal in der Hochmoderne. Was sich im Übergang zur Moderne allerdings massiv verändert hat, ist die Ambiguitätstoleranz bei vielen Akteuren, und es setzte ein sehr massiver Normierungs- und Vereinheitlichungsschub auf vielen gesellschaftlichen Feldern ein: im Rechtssystem, in der Verwaltung, in der nationalstaatlichen Politik, und auch im Privatleben, das überhaupt erst als solches erfunden wurde und als bürgerliches Familienideal ebenfalls hochgradig normativ war. Grenzen wurden deutlicher gezogen: zwischen den Geschlechtern (und ihren vermeintlich natürlichen Verhaltensweisen), zwischen Gesundheit und Krankheit oder Behinderung, zwischen den Sphären des Öffentlichen und des Privaten, zwischen Nationen und den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften. Ambiguität wurde gewissermaßen unsichtbar oder galt als Überrest der Vergangenheit, der im Rahmen von Modernisierungsprozessen schließlich verschwinden werde.

Nun kann man argumentierten, dass sich diese Kategorisierungen, die, wie Zygmunt Baumann betont hat, nur neue Widersprüche hervorriefen und daher zum Scheitern verurteilt waren, sich in der Postmoderne aufzulösen beginnen. Das gilt etwa für Geschlechterzuordnungen, teilweise für ideologische Grenzen, ganz und gar nicht allerdings für Grenzziehungen zwischen sozialen und gemeinwohlorientierten Normen. Erstaunlicherweise hält sich dort das Bild eines letztlich siegreichen Modernisierungsprozesses am hartnäckigsten, wie sich etwa an Korruptionsdebatten zeigen lässt. Werden wir aber letztlich normativ etwas „lockerer“, gar wieder etwas vormoderner? Das glaube ich nur bedingt. Denn einerseits war eine wesentliche Grundbedingung für die frühneuzeitliche Ambiguitätstoleranz die Ansicht, dass der sündhafte Mensch zu buchstabengetreuer Normenerfüllung und zu moralischer Perfektion schlichtweg nicht im Stande sei und sich daher mit lavierender Kasuistik begnügen musste. Derlei anthropologische Bescheidenheit sehe ich in derzeitigen Diskursen nicht wirklich, eher im Gegenteil. Und man darf auch nicht übersehen, dass es beispielsweise gegen den Trend der Auflösung oder De-Essenzialisierung von Geschlechtergrenzen, aber auch gegen die Auflösung nationaler Zuschreibungen und Identitäten massive Widerstände in der Gesellschaft gibt.

In Kürze werden Sie ein „Konzeptforum“ am Kolleg mitveranstalten. Bei diesem Workshopformat werden aktuelle theoretische und methodische Ansätze für die Erforschung von Recht interdisziplinär und epochenübergreifend diskutiert. Welche Einsichten erhoffen Sie sich hiervon für das Konzept der Normenkonkurrenz und kulturellen Ambiguität?

Ich bin vor allem auf die interdisziplinären Diskussionen gespannt. Dabei ist besonders interessant, historische mit anthropologischen Ansätzen zu vergleichen. Frühneuzeithistoriker:innen – auch ich – neigen eher dazu, Differenzen zwischen Epochen auszumachen, Anthropologen hingegen erinnern uns daran, wie stark die kulturellen Differenzen, aber auch Verflechtungen innerhalb eines Zeitraums sind. Es ist gerade für einen Frühneuzeithistoriker eine sehr interessante Erfahrung, die ich schon wiederholt im Kolleg gemacht habe, wenn Kolleg:innen der Anthropologie mit Fragestellungen an gegenwärtige Gesellschaften herangehen und dabei Resultate erzielen, die durchaus Überschneidungen zur historischen Forschung zur Frühen Neuzeit aufweisen. Nicht minder spannend ist es als Frühneuzeithistoriker, mit Juristen über die Geltungsgrundlage von Recht (und eben auch anderen Normen) zu diskutieren, weil es hier sehr unterschiedliche Perspektiven gibt. Und schließlich ist die Frage des Übergangs von vormodernen in moderne Normenordnungen – wer oder was trieb den Wandel faktisch voran, wie nahmen Akteure ihn wahr, wie viel vormoderner Umgang mit Normen findet sich noch in der Moderne? – noch zu guten Teilen ungeklärt. Insoweit werden auf der Tagung und in der zukünftigen Forschung epochenübergreifende Perspektiven besonders gefragt sein.

Die Fragen stellte Lennart Pieper.


Zitieren als:
Hillard von Thiessen/Lennart Pieper: „Einer Norm zu folgen, bedeutete die andere zu verletzen“. Interview, EViR Blog, 18.09.2023, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewvonthiessen/.

Lizenz:

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