Der Vergleich politischer Ratgeberliteratur macht Beziehungen zwischen Ost und West sichtbar – Interview mit Sophia Mösch
Einmal in der Welt, verbreiten sich Ideen häufig rasend schnell. Heutzutage können wir uns in Echtzeit darüber informieren, was am anderen Ende der Welt gedacht und gesprochen wird. Von solchen Geschwindigkeiten war das Mittelalter zwar weit entfernt, doch auch in dieser Zeit waren Kulturkreise keineswegs in sich geschlossen, sondern es herrschte ein reger Austausch von Wissen, Ideen und Texten. Die Historikerin Sophia Mösch untersucht politische Ratgeberliteratur für Herrscher in Europa und im Nahen Osten und begibt sich damit auf eine spannende philologische Spurensuche: Welche sprachlichen und inhaltlichen Verknüpfungen zwischen den lateinischen, griechischen, persischen und arabischen Quellen bestehen, wird erst durch akribische Textvergleiche sichtbar. Es zeigt sich: Bei allen kulturellen Unterschieden war das politische Denken in Ost und West wohl enger miteinander verwoben als bisher angenommen.
Dr. Sophia Mösch ist Historikerin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Juli 2021 forscht sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kolleg über politische Beratung während der karolingischen, mazedonischen und seldschukischen Reformen.
Frau Dr. Mösch, Sie untersuchen Fürstenspiegel und politische Ratgeberliteratur für Herrscher vom 9. bis 11. Jahrhundert und vergleichen in diesem Zuge die karolingische, die mazedonische und die seldschukische Dynastie. Warum gerade diese drei?
Dass sich Alkuin von York und Nizam al-Mulk beide mit unterschiedlichen Zuständen sozialer Ordnung befassen, die den Herrschern unterschiedliche Eigenschaften abverlangen, deutet auf Querverbindungen zwischen politischen Ratgebertexten des Westens und des Ostens auf inhaltlicher wie sprachlicher Ebene hin. Bislang hat noch keine detaillierte Studie intertextuelle Verbindungen zwischen karolingischen, mazedonischen und seldschukischen politischen Ratgebern hergestellt. In meiner Monografie untersuche ich Fürstenspiegel als analytischen Rahmen und kulturelles Reflexionsinstrument für die Überlieferung von Texten und Ideen. Dynastie (δυναστεία) ist eine ethnisch-analytische Kategorie für „Herrschaft“, die insofern innovativ sein kann, als sie weder zeitlichen noch räumlichen Parametern unterliegt.
Das 9., 10. und 11. Jahrhundert war prägend: In West- und Osteuropa entstand die Minuskel, und klassische, biblische und patristische Schriften wurden kopiert und in Florilegien angeordnet, um die Verbreitung von Wissen zu fördern. Die Forschung zu karolingischen Spiegeln ist umfangreicher als die zu griechischen politischen Ratgeberschriften des 9. und 10. Jahrhunderts. Angesichts der Tatsache, dass das sich entwickelnde karolingische Verhältnis von Kirche und Staat mit politischen und religiösen Kontroversen und Rivalität mit den Griechen einherging, lässt sich jedoch argumentieren, dass westeuropäische Quellenanalysen bislang einseitig waren und Karolinger-Spezialisten auch „auf die Unterseite des Teppichs“ schauen müssen, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.
Unter Malik-Schah I. (1072–1092), dessen ethnisch integrative Politik mit der Karls des Großen vergleichbar ist, erlebte die Seldschuken-Dynastie eine Phase des militärischen und wirtschaftlichen Aufschwungs sowie des staatlichen und kulturellen Wandels. Betrachtet man den Bruch und das Zusammenfließen der persischen kulturellen Strukturen als Ergebnis der Spannungen zwischen den etablierten Vorstellungen der islamischen Politik und den persisch-türkischen Ideen, die allmählich in das Staatswesen des Kalifats eindrangen, so war es nicht zuletzt Nizam al-Mulks politischem Rat zu verdanken, dass eine Reihe von Reformen in die Herrschaft von Malik-Schah I. fielen. Die wichtigsten waren die Errichtung eines Bildungssystems und der Aufbau von Ausbildungsstätten. Dass mehr transkulturelle und vergleichende Forschung notwendig ist, unterstreicht Linda T. Darling in ihrer Studie über Fürstenspiegel aus Europa und dem Nahen Osten: „Die Europäer haben im Mittelalter wie in der frühen Neuzeit ‚einige Tausend‘ Fürstenspiegel und Werke mit politischen Vorstellungen und Ratschlägen verfasst. Der Umfang der Forschung zu diesen Werken ist verglichen mit dem zu den Fürstenspiegeln des Nahen Ostens immens. Selten jedoch, wenn überhaupt, wurden Vergleiche dieser Traditionen über die Ost-West-Grenze hinweg angestellt.“ Eine andere Islamwissenschaftlerin, Neguin Yavari, stellt fest, dass es an Studien über die politische Beratung und die Politik der Seldschuken in westlichen Sprachen mangelt.
Durch die Marginalisierung des Byzantinischen Reiches in der Erforschung des mittelalterlichen Europas hinkt die Byzantinistik in Bezug auf praxisorientierte und dynamische Ansätze zu Macht und Politik in gleicher Weise hinterher. Wir können viel von den neuen Methoden lernen, für die Janet L. Nelson in der Forschung über den lateinischen Westen den Weg bereitet hat. Margaret Mullett beispielsweise stützte sich auf Dimiter Angelov und Paul Magdalino und kritisierte die konservative Herangehensweise der Byzantinisten an Quellen wie die epideiktische Redekunst.
Meine Monografie setzt Fürstenspiegel in Beziehung zu dieser neueren Gesellschaftsforschung und wirft dynamischere Fragen auf, etwa wie politische Beratung als Prozess ablief.
„Fürstenspiegel können als interdisziplinärer Analyserahmen dienen“
Was sind die Besonderheiten in der Arbeit mit lateinischen, griechischen und arabischen bzw. persischen Quellen?
Aus der Vielzahl der lateinischen, griechischen und persisch-arabischen Quellen der Ratgeberliteratur befasst sich meine Forschung mit solchen Texten, die das Zusammenspiel zwischen politischer, rechtlicher und religiöser Autorität widerspiegeln. Dazu gehören Abhandlungen zur moralischen Belehrung und sogenannte „Fürstenspiegel“. Als Teil des ‚Spiegel‘-Genres – das selbst eine Reflexion darstellt – vermitteln die Fürstenspiegel ein kulturspezifisches Bild. Somit können sie bei der Erforschung der Überlieferung von Texten und Ideen als interdisziplinärer Analyserahmen und kulturelles Reflexionsinstrument dienen.
Der persische Fürstenspiegel hat seinen Ursprung in vorislamischen Gattungen, die als „Buch“ (nāmag in Mittelpersisch; nāme oder نامه in Neupersisch) bezeichnet werden. Ein Beispiel ist das Ewen-Nāmag (Buch der Regeln) über die sassanidischen Sitten und Gebräuche. In islamischen Texten wird „Buch“ (nāme oder نامه) in der osmanisch-türkischen Tradition beibehalten, wo Naṣīḥat-nāme oder نصيحت نامه einen an einen Sultan gerichteten „Beratungsbrief“ bezeichnet. In arabischen Titeln erscheinen die Wörter naṣīḥat oder نصيحت (Rat) und siyar سیر (Manieren) häufig in Kombination mit al-mulûk oder الملوك (der Könige), und kitāboder کتاب ersetzt nāme oder نامه für „Buch“. Die griechischen Texte, die den neu gekrönten Kaisern Ratschläge geben, tragen die Titel παραίνεσις, παραινετικὰ κεφάλαια, λόγος νουθετητικός, ὑποθῆκαι undβασιλικὸς ἀνδριάς oder werden in der griechischen Handschriftenüberlieferung als περὶ βασιλείαςbezeichnet. Im lateinischen Westen taucht der wörtliche Begriff „Spiegel der Könige“ (speculum regum) relativ spät auf – zum ersten Mal im Titel der Genealogie der Könige von Gottfried von Viterbo (1180 oder 1183). Die Gattung speculum bezieht sich auf lehrreiche Werke, die als Handbücher fungieren.
Sie interessieren sich insbesondere für Strategien der Herrschaftslegitimation. Welche Unterschiede können Sie feststellen? Welche Rolle spielen dabei juristische oder religiöse Argumente?
In den untersuchten Dynastien waren politische Berater daran beteiligt, Macht zu legitimieren und Reformen zu propagieren. Einige Berater waren religiöse Autoritäten, andere Laien oder Juristen. Ihre Kultur der Beratung, des Austauschs und der Auseinandersetzung mit den Quellen ist, wie ich meine, repräsentativ für die ‚Eliten‘, die moralische Unterweisung gaben. Ein wichtiger Beitrag meiner Studie besteht darin, kulturelle Unterschiede in der Zusammensetzung dieser – in allen drei Forschungstraditionen vereinfachend als ‚Eliten‘ bezeichneten – Akteure aufzuzeigen, die unter karolingischer, mazedonischer und seldschukischer Herrschaft den höchsten sozialen Status innehatten und die Dynamik zwischen politisch-religiöser Autorität und den beteiligten Rechtsstrukturen bestimmten.
Ein Beispiel: Im Gegensatz zur karolingischen Thronfolge beruhte die mazedonische Erbfolge nicht allein auf der Grundlage der Blutsverwandtschaft und der gottgegebenen männlichen Autorität. Fähigkeiten wie militärische Stärke, Beliebtheit bei der Bevölkerung (unter den Demen) und gute Beziehungen zur Kirche spielten eine wichtige Rolle. Folglich konnte die Legitimität der Macht verloren gehen, und – noch wichtiger – auch Frauen konnten den Thron besteigen (insbesondere, wenn der männliche Erbe zu jung war, um zu regieren), wenn auch nur mit einem der modernen Minderjährigkeit vergleichbaren Status. In diesen Fällen wurde das Machtvakuum häufig durch andere Mitglieder der ‚Eliten‘ wie Eunuchen und Geistliche gefüllt.
Bei den Karolingern war das Erbrecht bestimmt von einer Kombination aus germanischen Verwandtschaftskonzepten und der römischen Vorstellung von der Trennung von Person und Amt, was bedeutete, dass der männliche Titelträger ohne Rücksicht auf seine persönlichen Eigenschaften anerkannt wurde. Im 9. Jahrhundert gewannen die Bischöfe durch einzigartige Konsensnetzwerke (die z. B. in Briefwechseln wie dem des Erzbischofs Hinkmar von Reims sichtbar werden) außerordentlich an politischem Einfluss, und karolingische Edelfrauen wurden mit Grafen an der Peripherie verheiratet, um das Reich zu stärken (z. B. Dhuoda).
Unter Malik-Schah I. wurde die seldschukische Erbfolge infrage gestellt, als zwei seiner ältesten Söhne starben. Deren Mutter, die karachanidische Prinzessin Terken Khatun, hatte einen dritten Sohn, der ihrem Willen nach die Nachfolge im Sultanat antreten sollte. Nizam al-Mulk und die Armee der Seldschuken hingegen bevorzugten den ältesten lebenden Sohn, der seldschukischer Abstammung war. In einem erfolglosen Versuch, Nizam al-Mulk aus dem Amt zu entfernen, verbündete sich die Prinzessin mit einem seldschukischen Höfling, der Nizam al-Mulk bei Malik-Schah I. der Korruption bezichtigte.
Ob es also Machtvakuen gab, die von Akteuren der sogenannten ‚Eliten‘ ausgenutzt werden konnten, war in allen drei Kultursystemen – wenn auch auf unterschiedliche Weise – auch eine Frage von Geschlecht und Alter.
Es geht Ihnen auch darum, Beziehungen zwischen den Texten zu identifizieren und den Ideenfluss zwischen Ost und West nachzuzeichnen. Wie gehen Sie dabei methodisch vor? Haben Sie digitale Hilfsmittel, und falls ja, wie hoch schätzen Sie deren Bedeutung für Ihre Arbeit ein?
Die Methode, die ich auf die Quellen anwende, ist philologisch-historisch und an Erich Auerbach (der Quentin Skinner vorwegnahm) angelehnt. Sie betrachtet die lateinischen, griechischen und persischen/arabischen Texte als politische Diskurse, die durch Inhalt und Sprache definiert sind. Erich Auerbach sammelte thematisch verwandte Texte und untersuchte sie auf wiederkehrende Inhalte und Sprache. Er suchte in den Quellen nach erforschenswerten Elementen, die helfen, Zusammenhänge zwischen Texten zu erklären. Diese Elemente mit Blick auf die Kontexte zu analysieren, in denen sie auftreten, ermöglichte ihm deren Definition. Auf diese Weise näherte er sich dem Verständnis der Texte in den untersuchten historischen Kontexten.
Ein solcher Ansatz verlangt den Forschenden ab, in einem frühen Stadium der Arbeit das Charakteristische in den Quellen zu identifizieren. Er zwingt den Texten also keine theoretischen Rahmen von außen auf, sondern sucht nach dem, was im Material selbst charakteristisch ist. Meine Auswahl von Passagen aus karolingischen, mazedonischen und seldschukischen Politikratgebern beruht auf sinnerfassendem Lesen (im Hinblick auf politische Vorstellungen), Terminologie, Konzepten und Figuren sowie Rhetorik und Stil. Die Herangehensweise an die lateinischen, griechischen und persischen/arabischen Quellen umfasst zwei Ansätze und erfordert die Suche nach expliziten und impliziten Beziehungen zwischen den Texten. Um diese Beziehungen aufzuspüren, stütze ich mich auf analoge und (wo verfügbar) auf digitale Techniken und Werkzeuge. Ich verwende zum Beispiel die erweiterte linguistische Text- und Wortsuche der Electronic Monumenta Germaniae Historica sowie die Online-Suche der Patrologia Latina und der Patrologia Graeca. Diese digitalen Werkzeuge eignen sich besonders gut für Sprachen ohne diakritische Zeichen (z. B. Latein). Darüber hinaus verwende ich handschriftliche Belege. Ziel ist es, auf verschiedenen Textebenen Beziehungen zwischen den Quellen aufzuzeigen.
Bezogen auf einen lateinisch-griechisch-persischen/arabischen transkulturellen Kontext, soll mein Ansatz eine Debatte über die Methodik in der Erforschung politischer Ratgeberliteratur anstoßen und dafür sorgen, dass die Forschung über nationale und disziplinäre Traditionen hinausgeht: Die Untersuchung der Sprache des Regierens in lateinischen, griechischen und persisch-arabischen Quellen trägt zum Verständnis fremder Begriffe bei, die bei der Erforschung von Herrschaftsvorstellungen verwendet werden; die Untersuchung des institutionellen Zusammenhangs von politischer, religiöser und rechtlicher Sphäre reicht über das Fach Geschichte hinaus.
Gibt es Passagen in den von Ihnen untersuchten Werken, in denen Sie zweifelsfrei intertextuelle Verbindungen identifizieren können?
Ja. Ich glaube, nicht nur im politischen Denken, sondern auch auf Textebene Ähnlichkeiten zwischen Passagen aus den Epistolae des Alkuin von York und dem سياست نامه („Buch der Staatskunst“) von Nizam al-Mulk gefunden zu haben.
Wie Alkuin spielt auch Nizam al-Mulk mit Gegensätzen zwischen verschiedenen Zuständen der sozialen Ordnung, die entgegengesetzte herrschaftliche Eigenschaften erfordern. Eine Phase der Unordnung und des Unfriedens erfordert die „Stärke“ des Herrschers gegen die Feinde des Staates. Eine Phase der Ordnung und des Friedens erfordert „Weisheit“, die eine verfeinerte politische Entscheidungsfindung und ein religiöses Urteil ermöglicht. Die Abfolge dieser Phasen bildet die Entwicklung auf dem Weg zu einer Gesellschaft ab, die sich an göttlichen Prinzipien orientiert. Ein wichtiges Attribut, mit dem dieser Endzustand erreicht wird, ist „Gerechtigkeit“. Eine detaillierte philologische Analyse dieser Quellen in ihren Originalsprachen wird zeigen, wie genau Alkuins spirituelle Vorstellung von „Gerechtigkeit“ und der von Nizam al-Mulk beschworene „Kreis der Gerechtigkeit“ in diesem Prozess zum Tragen kommen.
“Westliche Wissenschaftler schlossen Ostrom aus der Untersuchung des mittelalterlichen Europas aus”
In letzter Zeit sind aus globalhistorischer Perspektive Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Periodisierung „Mittelalter“ geäußert worden. Wie beurteilen Sie dies vor dem Hintergrund Ihrer Forschungen über den Kulturtransfer zwischen Ost und West?
Westliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Mayke De Jong, Anthony Kaldellis und vor allem Janet L. Nelson haben die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Mediävistik stark von der in den 1930er Jahren entstandenen europäischen Forschung geprägt ist. Nicht nur die Islamwissenschaft, auch die Byzantinistik wurde an den Rand gedrängt. Die westliche Perspektive, die zu absoluter Macht und theokratischen Vorstellungen tendiert, hat in Bezug auf das Oströmische Reich eine Reihe abstrakter stereotyper Formeln hervorgebracht („das absolutistische orthodoxe christliche Imperium“, „das Reich der Griechen“ und „Byzanz“): Indem westliche Wissenschaftler das Reich, das die Fortführung Roms im Osten darstellt, mit Begriffen wie ‚Absolutismus‘, ‚Theokratie‘, ‚Spiritualismus‘, ‚Orientalismus‘ und sogar ‚Exotismus‘ belegten, beraubten sie den Osten seines römischen Erbes und schlossen Ostrom aus der Untersuchung des mittelalterlichen Europas aus. Ich spreche nur der Einfachheit halber von ‚Byzanz‘, wenn ich mich auf das Oströmische Reich beziehe, im Gegensatz zum ‚Karolingischen Reich‘, das den fränkischen Versuch bezeichnet, die weströmische Tradition wieder aufleben zu lassen.
Garth Fowden, Historiker der abrahamitischen Religionen, stellt fest, dass als europäische Pioniere des 20. Jahrhunderts erstmals Carl H. Becker (1876–1933), der deutsche Mitbegründer der modernen Islamwissenschaft, Orientalist und Politiker in der Weimarer Republik, sowie der belgische Mediävist Henri Pirenne (1862–1935), der für die sogenannte Pirenne-These über die Ursprünge des Mittelalters in der reaktiven Staatsbildung und den Verschiebungen im Handel bekannt ist, den Islam als Teil der europäischen Geschichtsschreibung betrachteten. Becker und Pirenne zufolge schloss Europa den Islam ein, doch ihr Interesse ging nicht über die Erstellung einer Genealogie Europas hinaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte der bedeutende Historiker Peter Brown eine Synthese, die historische Kontinuitätslinien bis zum Jahr 800 n. Chr. verfolgte. Sein Zeitrahmen behandelte den Islam jedoch als bloße Erweiterung der Spätantike.
Ich persönlich finde es wichtig, dass westliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Dialog mit der muslimischen Forschung führen. Laut Jaakko Hämeen-Anttila, Professor für arabische Sprache und Islamwissenschaft an der Universität Edinburgh, sind in der muslimischen Islamwissenschaft Bezüge auf westliche Analysekategorien relativ selten, da Wissenschaftler Periodisierungen wie Spätantike und Mittelalter übergehen können, wenn ihre Forschung nicht kulturvergleichend ist. Die Kluft zwischen den westlichen/nicht-muslimischen Islamwissenschaften und den muslimischen Islamwissenschaften, die Garth Fowden als „Paralleltradition“ bezeichnet, ist noch viel größer, als er annimmt. Es bleibt die Frage, welche Rolle traditionelle Analysekategorien in einer Forschung spielen sollten, die sich mit interkulturellen und interreligiösen Themen befasst. Da auf der Philologie der Druck lastet, sich an lateinische, griechische oder islamische Sichtweisen anzupassen, ist es die Aufgabe von Historikerinnen und Historikern, innovative und kulturell integrative Analyserahmen zu schaffen.
In meiner Monografie arbeite ich ausdrücklich mit dem Begriff ‚transkulturell‘ und bezeichne damit eine Forschung, die nicht kulturspezifisch ist, sondern kulturelle Grenzen überschreitet. Mit ‚transkulturell‘ meine ich nicht ‚transreligiös‘ oder ‚transethnisch‘. Mein Projekt verfolgt einen philologisch-historischen Ansatz, und ich verwende ‚transkulturell‘ daher in erster Linie im philologischen Sinne. Ebenso verstehe ich die Begriffe ‚Westen‘ und ‚Osten‘ hauptsächlich philologisch, also als lateinischen Westen sowie griechischen und persischen/arabischen Osten. Auf der anderen Seite glaube ich, dass ein Begriff wie ‚international‘ für meine Forschung nicht geeignet wäre, da er nicht zwangsläufig verschiedene kulturelle Systeme einschließt. Auch bin ich der Meinung, dass der Begriff ‚global‘ in den meisten seiner Anwendungsfälle – einschließlich in ‚Globalisierung‘ und ‚globales Mittelalter‘ – zu weit gefasst ist. Ein Konkurrenztitel zu meinem kommenden interdisziplinären Workshop und Sammelband (2023) ist Global Medieval: Mirrors for Princes Reconsidered (Regula Forster & Neguin Yavari (Hrsg.), Boston, Massachusetts 2015). Ich halte diesem Buch entgegen, dass situationsspezifische Vergleiche gefragt sind, wenn wir ein globaleres Verständnis von Konzepten des politischen Denkens fördern wollen. Ein Beispiel ist „Dschihad“ und wie dieser Begriff vom deutschen Orientalisten und Politiker Carl H. Becker im Vorfeld des Ersten Weltkriegs grundlegend missinterpretiert wurde. Wie Garth Fowden dargelegt hat, förderte Becker auf politischer Ebene die Bemühungen des Kaisers um ein deutsch-osmanisches Bündnis und unterstützte bei Kriegsausbruch den Plan, dass das Osmanische Reich den „Dschihad“ gegen die Entente-Mächte erklären sollte. Der grundlegende Fehler Beckers war, die kontextabhängige Bedeutung von „Dschihad“ bzw. seine Beschränkung auf einen bestimmten Sinnzusammenhang nicht zu erkennen.
Zu guter Letzt: Was macht für Sie die Arbeit am Käte Hamburger Kolleg aus?
Ich denke, dass mein interdisziplinäres und mehrsprachiges akademisches Profil zur Synthesebildung am Käte Hamburger Kolleg beitragen kann – ein Bereich, in dem meine Interessen in Bezug auf wissenschaftliche Leitung liegen. Die Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kolleg ermöglicht mir auch, mein innovatives interkulturelles Projekt mit einem größeren internationalen akademischen Netzwerk von gegenwärtig bedeutsamen Historikerinnen und Historikern zu verbinden. Ich kann mein britisches Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Münster einbringen und im Gegenzug mein eigenes Netzwerk um deutsche Expertinnen und Experten auf meinem Gebiet erweitern.
Als Mediävistin, die sich mit der Überlieferung von Texten und Ideen befasst, ist es mir ein besonderes Anliegen, die mit Begriffen wie ‚Kanonisierung‘, ‚Übersetzung‘, ‚Kommunikation‘ und ‚Performanz‘ verbundenen Bedeutungen zu überdenken. Diese Aspekte sind auch für Rechtshistoriker interessant, die sich damit beschäftigen, wie Recht und Rechtsprechung als Verfahren entstanden sind. In unserer letzten Reading Session, die ich organisiere, haben wir uns mit einem Text von Lauren Benton und Richard J. Ross über das Recht in Imperien (2013) beschäftigt. Da ‚Staatlichkeit‘ – oder weniger eurozentrisch: ‚Gemeinschaftsbildung‘ – untrennbar mit der Schaffung von ‚Rechten‘ und ‚Gesetzen‘ für die Bürger des Staates verbunden ist, bietet dieser Text einen besonderen Blickwinkel, durch den die Mechanismen des Rechts kulturübergreifend verglichen werden können, ohne auf westliche chronologische oder geografische Kategorien wie die Periodisierung zurückgreifen zu müssen. An der Entwicklung geeigneter Methoden zur Untersuchung rechtlicher Vereinheitlichungs- und Pluralisierungsprozesse mitzuwirken, bedeutet, eine gemeinsame ‚Sprache‘ zu schaffen, die auf verschiedene Forschungskontexte angewendet werden kann.
Die Fragen stellte Lennart Pieper.
Zitieren als:
Sophia Mösch/Lennart Pieper: „Das karolingische Verhältnis von Kirche und Staat ging mit einer Rivalität mit den Griechen einher“. Interview, EViR Blog, 01.03.2022, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewmosch/.
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