Interview mit der neuen Ko-Direktorin Nora Markard
Seit Juni 2025 leitet die Rechtswissenschaftlerin Nora Markard als neue Ko-Direktorin das Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“. Mit Rechtspluralismus hat sie als Völkerrechtlerin ständig zu tun; daneben beschäftigt sie sich auch mit dem rechtlichen Umgang mit gesellschaftlicher Diversität. Außerdem demonstriert sie immer wieder die gesellschaftsverändernde Kraft des Rechts – sei es durch ihr Engagement in gemeinnützigen Vereinen und Initiativen, durch ihre Bücher und nicht zuletzt auf ihrem Instagram-Kanal. Im Interview spricht sie über aktuelle Entwicklungen im Verfassungs- und Völkerrecht und erklärt, wie sie ihre Forschungsschwerpunkte ins Kolleg einbringen will.

Prof. Dr. Nora Markard hat den Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Münster inne. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen internationales Flüchtlingsrecht, Menschenrechte und internationales Strafrecht sowie Legal Gender Studies.
Frau Professorin Markard, zum 1. Juni 2025 haben Sie an der Seite von Ulrike Ludwig das Direktorium des Käte Hamburger Kollegs „Einheit und Vielfalt im Recht“ übernommen. Was reizt Sie an dieser Aufgabe?
Die Interdisziplinarität und die Internationalität reizen mich! Das Kolleg ist ein Raum des Austauschs für Forschende aus unterschiedlichen Disziplinen, die sich für Recht interessieren. Die Öffnung der Rechtswissenschaft für inter- und transdisziplinäre Perspektiven und die Internationalisierung der Rechtsforschung sind mir schon seit langer Zeit ein Anliegen. Ich freue mich daher sehr, gemeinsam mit Ulrike Ludwig ein Projekt zu leiten, dem diese Perspektiven eingeschrieben sind.
Die Grundthese des Kollegs, dass die Gleichzeitigkeit von Rechtseinheit und Rechtsvielfalt eine transhistorische und transregionale Konstante ist, die immer wieder in neuen Formationen ausgehandelt wird, dass sich dieses Verhältnis immer wieder neu formiert, fasziniert mich. Die Abkehr vom Entweder-Oder erlaubt eine Differenzierung, aus der ich mir wichtige Erkenntnisse verspreche.
Ich habe über das letzte Jahr auch bereits das großartige Team des Kollegs kennenlernen dürfen und freue mich schon sehr auf die Zusammenarbeit!
Womit beschäftigen Sie sich zurzeit in Ihrer Forschung und wie werden Sie Ihre Forschungsschwerpunkte in die gemeinsame Arbeit einbringen?
Ich stehe im Kolleg für die Stärkung der geltendrechtlichen Perspektiven, die in der zweiten Phase die historischen und rechtsgeschichtlichen Perspektiven noch stärker ergänzen werden. Meine Forschungsschwerpunkte liegen im deutschen und vergleichenden Verfassungsrecht und im internationalen Recht.
Gerade das internationale Recht ist dadurch gekennzeichnet, dass zwar gemeinsame Standards ausgehandelt werden, diese aber nur sehr eingeschränkt zentral durchsetzbar sind. Daher etablieren sich regelmäßig national und regional unterschiedliche Handhabungen und Interpretationen. Die verschiedenen internationalen Rechtsregime entwickeln sich außerdem weitgehend unkoordiniert nebeneinander her, sodass immer wieder Sachverhalte von verschiedenen Regimen erfasst und mit z. T. widersprüchlichen Regeln belegt werden. Hier kann es also auch zu unterschiedlichen gerichtlichen Spruchpraxen kommen. Die Gleichzeitigkeit von Rechtseinheit und Rechtsvielfalt ist hier mit Händen zu greifen.
Thematisch interessiert mich besonders der rechtliche Umgang mit Ungleichheiten und Diskriminierung, sowohl im Verfassungsrecht und den Menschenrechten als auch ganz konkret im Antidiskriminierungsrecht. Im Kolleg korrespondiert damit die Forschungsperspektive der gesellschaftlichen Diversität. Meine menschenrechtlichen Forschungsinteressen finden oft auch rechtsanthropologische Anschlüsse
Auch abseits des Kollegs und Ihres Lehrstuhls sind Sie sehr aktiv. Neben Forschungsgesellschaften, Arbeitskreisen und Redaktionen engagieren Sie sich auch als Vorstandsmitglied in der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Können Sie etwas über deren Arbeit berichten?
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte setzt sich mit den Mitteln der strategischen Prozessführung für die Grund- und Menschenrechte ein. Das heißt, wir suchen möglichst optimale Fälle, mit denen sich eine Rechtsfrage mit großer gesellschaftlicher Bedeutung klären lässt. Die Idee ist: Andere können dann mit diesem Präzedenzfall weiterarbeiten.
Und mit diesen Mitteln haben wir auch schon mehrere Verfassungsbeschwerden gewonnen. Zum Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht auf unsere Klage hin festgestellt, dass deutsche Geheimdienste auch im Ausland an die Grundrechte gebunden sind – das war bahnbrechend! Neben den Grundrechten in der digitalen Gesellschaft gehören zu unseren Schwerpunkten aber auch eine starke Zivilgesellschaft in der Demokratie sowie gleiche Rechte und soziale Teilhabe. Ich selbst engagiere mich besonders intensiv in den Fällen zur Entgeltgleichheit.
Einem größeren Publikum sind Sie durch Ihr im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Jura not alone“ bekannt. Zusammen mit dem Journalisten Ronen Steinke versammeln Sie darin „12 Ermutigungen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern“. Was hat Sie dazu bewogen?

Jura gilt als trocken, abstrakt, lebensfremd – davon fühlen sich viele abgeschreckt. Aber praktisch alle Bereiche unseres Lebens sind durch das Recht strukturiert; wer verstehen will, warum die Dinge sind, wie sie sind, kommt oft um das Recht nicht herum. Wer es ändern will, muss wissen, wie es funktioniert. Deshalb ist es mir wichtig, über Recht nicht nur im Fachdiskurs zu sprechen, sondern auch mit Nicht-Jurist:innen, in einer möglichst zugänglichen Weise, die Lust auf mehr macht. Ich verstehe das auch als demokratische Aufgabe. Ein solches Bemühen um ein Sich-verständlich-Machen ist in interdisziplinären Kontexten wie dem Kolleg unverzichtbar. Und es war für meinen Co-Autor Ronen Steinke, ebenfalls promovierter Jurist, und mich eine große Motivation beim Schreiben. In einer Zeit der zunehmenden Politikverdrossenheit ist es uns außerdem wichtig, zu zeigen, dass man etwas tun kann – und dass das Recht dafür ein wichtiges Mittel sein kann.
Die zwölf Buchkapitel stellen deswegen jedes ein Rechtsgebiet vor – Sozialrecht, Arbeitsrecht, Strafrecht, Grundrechte und so weiter. Aber nicht wie ein klassisches Jura-Lehrbuch, mit Merksätzen, Definitionen und Sachverhalten, in denen die Beteiligten „A“ und „B“ heißen. Sondern über exemplarische Geschichten von echten Menschen und aktuellen Konflikten, in denen das Recht lebendig wird. Diese Menschen versuchen, im Recht und mit dem Recht etwas zu bewegen, und sie haben damit immer wieder auch Erfolg. Das sind manchmal Jurist:innen, oft aber auch ganz normale Leute, die einfach merken, dass das Recht ungerecht ist, und sich daran machen, es zu ändern. Wenn sie das mit anderen zusammen tun, also „not alone“, finden sie darin oft eine besondere Kraft. Auch das ist eine schöne Parallele zum Kolleg!
Mit der GFF belegen Sie die verändernde Kraft des Rechts ganz praktisch. Auf welchen gesellschaftlichen Feldern kann das Recht einen Unterschied machen?
Ganz deutlich wird es bei den Klimaklagen. Dass zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte so klar geurteilt haben, dass die Regierungen zu einem effektiven Klimaschutz verpflichtet sind, das hat die Sache schon vorangebracht. Die Politik tendiert zum Verschieben auf später, denn man will ja wiedergewählt werden, und Klimaschutz macht keinen Spaß. Gerichte haben einen anderen Zeithorizont und fokussieren auf das Recht. Damit sind sie wichtige Vetospieler.
Rechtliche Argumente können auch eine besondere Überzeugungskraft haben, wenn man sich politisch uneins ist. Jedenfalls solange wir uns noch darauf einigen können, dass Grundrechte wichtig sind, und dass sich Regierung und Behörden auch dann an das Recht halten müssen, wenn es ihren Vorstellungen im Weg ist.
Als Juristin äußern Sie sich häufig zu tagespolitischen Entwicklungen. In Deutschland sehen viele das Erstarken der AfD mit Sorge, ein Verbot der Partei scheint aber im Augenblick in weite Ferne gerückt. In Frankreich hat ein Strafgericht Marine Le Pen wegen Veruntreuung von EU-Geldern für fünf Jahre das passive Wahlrecht entzogen, sie darf also bei den nächsten Präsidentschaftswahlen höchstwahrscheinlich nicht antreten. Hat sich hier der französische Rechtsstaat von einer wehrhaften Seite gezeigt, die dem deutschen fehlt?
So etwas ginge hier auch, zum Beispiel mit Artikel 18 Grundgesetz. Danach kann das Bundesverfassungsgericht bei Personen, die ihre Grundrechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ missbraucht haben, die Verwirkung von Grundrechten aussprechen. Auch das passive Wahlrecht kann verwirkt werden.
Das deutsche Recht hält verschiedene wichtige Instrumente zum Schutz der Demokratie bereit – aber man muss sie auch nutzen. Ich bin zum Beispiel wirklich fassungslos, dass die ganze Zeit niemand daran gearbeitet hat, die Erfolgsaussichten eines Verbotsantrags ernsthaft zu prüfen – obwohl viele Abgeordnete mit dem Kopf wackeln und (zu Recht) sagen, man sollte sich schon sehr sicher sein, dass es klappt, bevor man ein Verbotsverfahren anstrengt. Inzwischen prüfen das zivilgesellschaftliche Organisationen; die GFF leitet das Projekt. Der neue Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz hilft dabei natürlich sehr, aber er beantwortet nicht alle Fragen, die sich bei einem Verbotsantrag stellen.
Die Strategie des Abwartens und „Wegregierens“ geht seit Jahren nicht auf. Manche Bundesländer sind deswegen bereits handlungsunfähig. Wir müssen deswegen ins Handeln kommen.
Seit dem außenpolitischen Schwenk der USA unter Präsident Trump scheint es aus der Mode zu kommen, sich an internationales Recht zu halten. Zuletzt hat Ungarn als erstes europäisches Land angekündigt, aus dem Internationalen Strafgerichtshof auszutreten. Was erleben wir da gerade im Bereich des Völkerrechts?
Diesen Trend können wir schon länger beobachten. Polen hat sich unter der PiS-Regierung offen gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestellt, Russland hat bereits 2014 mit der Annexion der Krim offen Völkerrecht gebrochen, und die Interventionspolitik der USA setzt sich schon lange über die Rechte anderer Staaten und die Menschenrechte hinweg.
Der Internationale Strafgerichtshof hat auch schon mehrere Austritte zu verzeichnen. Teils lag das an dem Vorwurf, er sei voreingenommen gegen afrikanische Staaten. Das stimmt nicht ganz; die ersten Fälle stammten zwar aus afrikanischen Ländern, waren dem Strafgerichtshof aber von den Regierungen selbst vorgelegt worden. Aber der Backlash hat jetzt auf jeden Fall eine neue Dimension. Die USA haben Sanktionen gegen das Personal des Gerichtshofs verhängt, und gleichzeitig verkündet Bundeskanzler Merz, er werde sich bei einem Besuch des israelischen Premierministers Netanjahu nicht an seine Pflicht zur Durchsetzung des internationalen Haftbefehls gegen Netanjahu wegen Kriegsverbrechen halten. Diese offene Opposition gegen das Völkerrecht auch bei uns macht mir große Sorgen.
Auch die amerikanischen Universitäten geraten unter Trump unter massiven Druck. Sie selbst sind oft an der Columbia-Universität in New York. Wie nehmen Sie die Lage dort wahr?
Die US-amerikanischen Universitäten sind pluraler, als es von außen wahrgenommen wird; es arbeiten dort durchaus auch Konservative. Aber Präsident Trump will sie komplett auf Linie bringen. Und das widerspricht diametral den Grundsätzen der Wissenschaftsfreiheit.
Universitäten müssen Orte bleiben, an denen unterschiedliche Positionen miteinander im Gespräch bleiben. Das ist anstrengend, und es kann schmerzhaft sein. Für Hassrede oder gar Gewalt darf kein Platz sein, klar; aber es ist gefährlich, wenn die Leute gerade an dem Ort den Mund halten, wo Ideen in Austausch treten sollen. Dass das passiert, hat verschiedene Gründe. Die finanziellen Sanktionen gegen die Universitäten sind exorbitant, und ihre Beschäftigten werden auch in den Sozialen Medien massiv unter Druck gesetzt, wenn sie sich zum Beispiel für die Rechte protestierender Studierender einsetzen. Und man muss mit den Protesten wirklich nicht in jeder Hinsicht einverstanden sein, um ein Problem damit zu haben, wie rigoros die Unis mit ihnen umgehen.
Hinzu kommt, dass alle rechtlichen Maßnahmen zur Förderung von Diversität abgeschafft werden sollen; Unis werden damit wieder vor allem ein Ort für die Starken, die gesellschaftlich in der Mehrheit sind. Auch das ist schlecht für die Wissenschaft.
Wir müssen aber nicht nur in die USA schauen; auch hier in Deutschland gehen Universitäten zum Teil unverhältnismäßig mit Protesten um. Studierende bekommen keine Räume, um Diskussionen zu führen, Konferenzen werden von der Polizei geräumt, es gibt Diskussionen über Exmatrikulationen. Wir brauchen aber diese Diskussionen, und es ist eine Chance für Universitäten, zu zeigen, wie das ohne solche Konfrontationen möglich sein kann. Repression muss wirklich das allerletzte Mittel gegen besonders extreme Auswüchse bleiben.
Sollte sich auch die Wissenschaft in Deutschland stärker zu demokratischen Grundwerten bekennen?
Ja. Unbedingt. Es reicht nicht, am Tag des Grundgesetzes mit Fähnchen zu wedeln. Demokratie und Grundrechte müssen sich jeden Tag in der Praxis beweisen.
Die neue Bundesregierung hat als eine ihrer ersten Amtshandlungen die Kontrollen an den deutschen Grenzen verschärft und weist auch Asylsuchende zurück. Dieses Vorgehen wurde vom Verwaltungsgericht Berlin nun als rechtswidrig eingestuft.
Auch das ist wieder so ein Beispiel dafür, wie die Politik leichtfertig die Grenzen des Rechts überschreitet und damit einen gefährlichen Präzedenzfall setzt. Bundeskanzler Merz ist Jurist, er weiß sehr genau, dass die von ihm versprochenen Zurückweisungen gegen Europarecht verstoßen. Das hat er jetzt auch vom Berliner Verwaltungsgericht nochmal schwarz auf weiß fein säuberlich ausgeführt bekommen. Innenminister Dobrindt und er wollen an der Politik dennoch weiter festhalten.
Diese kompromisslose Haltung bedeutet, sich in offenen Widerspruch zum Recht zu setzen. Denn auch die Berufung auf die europäische „Notstandsklausel“ in Artikel 72 AEUV wird nach allem, was der Europäische Gerichtshof dazu bisher gesagt hat, wohl kaum ziehen. Und wenn schon Deutschland sich nicht mehr ans Europarecht halten will, warum sollen das dann die anderen EU-Staaten tun?
Das Interview wurde schriftlich geführt. Die Fragen stellte Lennart Pieper.
Zitieren als:
Nora Markard/Lennart Pieper: „Mit Nicht-Jurist:innen über Recht zu sprechen ist eine demokratische Aufgabe“. Interview, EViR Blog, 04.06.2025, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewmarkard
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