Interview mit Giacomo Mariani über die päpstliche Verfolgung der jüdischen Gemeinde Anconas
Die Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel in den 1490er Jahren markiert einen Wendepunkt für das jüdische Leben und die jüdische Identität in Europa. Der Historiker Giacomo Mariani widmet sich in einem lokalen Zugriff der sephardischen Gemeinde in Ancona, das im 16. Jahrhundert zum Kirchenstaat gehörte. Er beleuchtet ihre wechselvolle Beziehung zu den Päpsten und thematisiert dabei den Schutz, den die Gemeinde zunächst genoss, ebenso wie den radikalen Wandel unter Papst Paul IV. Im Interview spricht er über die historischen Hintergründe, die rechtlichen Rahmenbedingungen im Kirchenstaat und die Verfolgungspolitik Pauls IV.
Dr. Giacomo Mariani ist Absolvent der Central European University in Budapest und widmet sich in seinen Studien der Religions-, Sozial- und Geistesgeschichte des frühneuzeitlichen Italiens. Er ist von April bis September 2024 Fellow des Käte Hamburger Kollegs.
Herr Dr. Mariani, in Ihrem Forschungsprojekt beschäftigen Sie sich mit dem päpstlichen Zugriff auf jüdische Gemeinschaften, im konkreten Fall der ,portugiesischen‘ Juden der Stadt Ancona. Wie lässt sich die jüdische Gemeinde Anconas bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts beschreiben?
Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war Ancona eine blühende Hafenstadt des Kirchenstaates. Sie lag strategisch günstig an den Handelswegen, die den Nordwesten Europas mit dem Osten verbanden – über die Adria und den Balkan bis ins Herz des Osmanischen Reiches und darüber hinaus. Als solche beherbergte Ancona eine Reihe unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gemeinschaften von Kaufleuten und Reisenden: Türken, Griechen, Armenier sowie verschiedene jüdische Gemeinschaften (italienische, aschkenasische, levantinische und sephardische), die sich nach und nach dort niedergelassen hatten. Meine Forschung betrifft insbesondere die sephardische, d. h. iberisch-stämmige jüdische Gemeinde, die im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts in Ancona unter dem besonderen Schutz zweier Päpste, Paul III. (1534–1549) und Julius III. (1550–1555), florierte. Während der Pontifikate dieser beiden Päpste nahm der Wohlstand und die Bedeutung der Gemeinde rasch zu; bedeutende Familien und Einzelpersonen wie etwa Gracia Nasi (eine der reichsten Händlerinnen und Bankiers ihrer Zeit) und Amatus Lusitanus (ein bekannter Arzt) ließen sich in Ancona nieder. Die beiden genannten Päpste verfolgten das Ziel, die Handelsaktivitäten der sephardischen Juden für einen Aufschwung Anconas als Handelszentrum zu nutzen. Sie gewährten daher den in der Stadt lebenden iberischen Juden Schutz vor Nachforschungen bezüglich ihres unklaren religiösen Status.
In den 1490er Jahren war das jüdische Leben auf der iberischen Halbinsel stark in Bedrängnis geraten: Während die Juden Spaniens 1492 zur Entscheidung zwischen Konversion und Auswanderung gezwungen waren, veranlasste der König von Portugal im Jahr 1497 Zwangstaufen für all seine jüdischen Untertanen. Aus diesem Grund standen alle Juden iberischer Herkunft, die sich in den folgenden Jahrzehnten über ganz Europa verstreuten, im Verdacht, Apostaten zu sein: Menschen, die zum Judentum zurückgekehrt waren, obwohl sie die Taufe empfangen hatten und Katholiken geworden waren. Das ist genau das Problem, das dem Leben der sephardischen Gemeinde von Ancona ein jähes Ende bereitete.
„Die sephardischen Juden wurden der Apostasie beschuldigt“
Giacomo Mariani
Dieses Ende kam mit der Regentschaft von Papst Paul IV. (1555–1559). Was geschah?
Nach dem Tod von Papst Julius III. und dem kurzen Pontifikat von Marcellus II. (er war weniger als einen Monat lang Papst) wurde im Mai 1555 der Kardinal von Neapel, Gian Pietro Carafa, als Papst Paul IV. an die Spitze der römischen Kirche gewählt. Schon ein älterer Mann – er stand kurz vor seinem 79. Geburtstag –, war er vor seiner Wahl maßgeblich an der Kongregation des Heiligen Offiziums beteiligt. Er hatte sehr genaue Vorstellungen davon, wie er in die katholische Gemeinschaft unter seiner geistlichen und weltlichen Herrschaft eingreifen wollte. Diese Vorstellungen umfassten ebenfalls das Zusammenleben von Christen und Juden. Eine der ersten Entscheidungen, die er traf, war die Ernennung eines Sonderbeauftragten der Inquisition, der mit der Verfolgung der in Ancona lebenden sephardischen Juden betraut wurde. Sie wurden nun der Apostasie beschuldigt und alle ihnen zuvor erteilten Privilegien wurden aufgehoben. Außerdem hatte Paul IV. weniger als zwei Wochen zuvor eine berühmte Bulle mit dem Titel Cum nimis absurdum erlassen, die das Leben der im Kirchenstaat lebenden Juden stark einschränkte. Diese Bulle verbot ihnen unter anderem den Besitz von unbeweglichen Gütern und verlangte die Absonderung ihrer Gemeinschaften in einem speziell ausgewiesenen Raum innerhalb der Städte: dem Ghetto.
Was verbirgt sich hinter der Klassifizierung als „portugiesisch“ innerhalb der jüdischen Gemeinschaft von Ancona?
In den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts hatte die jüdische Bevölkerung im portugiesischen Königreich eine unglaubliche Bedeutung und einen außerordentlichen Reichtum erlangt. Zu ihren Mitgliedern zählten einige äußerst einflussreiche und mächtige Persönlichkeiten, die wichtige Positionen in den politischen und steuerlichen Institutionen eines Landes innehatten, das gerade dabei war, neue globale Handelsrouten von Brasilien bis Indien zu erschließen. Aufgrund der Zwangskonvertierungen von 1497 und der zunehmend feindseligen christlichen Gesellschaft in ihrem Umfeld dehnten diese Personen und Gruppen ihre Netzwerke weit über das portugiesische Reich hinaus aus. Sie trieben Handel in den wichtigsten Zentren des Mittelmeerraums und auf den Weltmärkten, wodurch ein wertvolles und einzigartiges Handelsnetz entstand.
Während der Verfolgung der sephardischen jüdischen Gemeinde von Ancona in den Jahren 1555 und 1556 wurde die Einstufung als Portugiesen verwendet, um die Personen zu unterscheiden, die strafrechtlich verfolgt werden konnten. Diese Personen – die mit ziemlicher Sicherheit als getauft angesehen werden konnten, da es in Portugal seit sechzig Jahren keine Juden mehr gab – wurden von anderen sephardischen Juden unterschieden, die lange Zeit unter osmanischer Herrschaft gelebt hatten und sich nun als levantinische Juden oder Untertanen des osmanischen Sultans ausweisen konnten.
Wie sah die Gerichtslandschaft im Kirchenstaat zu dieser Zeit aus und wie wirkte sie sich auf das Schicksal der Juden aus?
Die Gerichtslandschaft des Kirchenstaates in der Mitte des 16. Jahrhunderts war sehr komplex, geprägt von einer Schichtung von Befugnissen und gegenläufigen Bestrebungen der Zentralisierung und des Widerstands dagegen. Zusätzlich wurde sie durch das Nebeneinander verschiedener Gerichtsbarkeiten erschwert, wie in diesem Fall der örtlichen und zentralen Laiengerichte sowie des weit verzweigten religiösen Gerichts des Heiligen Offiziums. Es scheint klar zu sein, dass Papst Paul IV. im Fall der Verfolgung der portugiesischen jüdischen Gemeinde von Ancona – wie auch in anderen Fällen – versuchte, Ordnung in dieses juristische und gerichtliche Wirrwarr zu bringen, indem er das Heilige Offizium zum obersten Gericht im Kirchenstaat erhob und damit alle anderen Gerichtsbarkeiten diesem unterstellte. Allerdings gab es dagegen einigen Widerstand. So beauftragte der Stadtrat von Ancona eilig seinen Vertreter in Rom mit einem Vermittlungsversuch, doch der reichte nicht aus, um die portugiesischen Juden zu schützen, die in der adriatischen Hafenstadt lebten. Ein weiterer Fall ist das Herzogtum Urbino, das geografisch sehr nahe an Ancona liegt. Der Herzog von Urbino war ein Lehnsmann des Papstes und genoss als solcher eine gewisse Freiheit von päpstlichen Entscheidungen. Dies ging so weit, dass einige portugiesische Juden, die aus Ancona fliehen konnten, in den Gebieten des Herzogtums Zuflucht fanden und vor den Auslieferungsforderungen des Heiligen Offiziums geschützt waren.
Wie sind Sie eigentlich auf diesen Fall aufmerksam geworden und welche Quellen nutzen Sie zu seiner Erschließung?
Die Geschichte, wie diese Forschungen begannen, dürfte ein sehr überzeugendes Argument für das Konzept des „Glücksfalls“ sein. Tatsächlich begann ich mit der Arbeit an diesem Fall, nachdem mein guter Freund, der hervorragende Archivar Dario Taraborrelli, eine Gruppe völlig unbekannter Akten aus dem 16. Jahrhundert mit dem Siegel der Inquisition an einem Ort entdeckt hatte, an dem sie absolut nicht „hingehörten“. Die Dokumente wurden im Archiv der Zivilgerichte der Stadt Ravenna und der Gesandtschaft der Romagna (einer Verwaltungseinheit des Kirchenstaates) entdeckt. Gemeinsam begannen wir, die Akten durchzusehen und erkannten, was wir gefunden hatten.
Die Wahrheit ist, dass solche Entdeckungen nur diejenigen machen, die neugierig und geduldig genug sind, um riesige Mengen unerforschter Archivalien zu durchforsten, und die auch bereit sind, die Entdeckung nicht unbemerkt zu lassen. Ich glaube, mein Anteil daran ist die gewöhnliche Arbeit eines Historikers, der die verschiedenen Fäden, die ein so wichtiger und vielschichtiger Fall zu bieten hat, aufnimmt und diese Spuren in so viele verschiedene Richtungen verfolgt, wie es seine Kräfte und Fähigkeiten erlauben.
Die Fragen stellte Emily Todt.
Zitieren als:
Giacomo Mariani/Emily Todt: „Die Bulle verlangte die Absonderung im Ghetto“. Interview, EViR Blog, 22.08.2024, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewmariani/.
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