Interview mit Claudia Lieb über den Zusammenhang von Recht und Sprache
Seit Mai 2022 unterstützt PD Dr. Claudia Lieb als neue Mitarbeiterin das Team des Käte Hamburger Kollegs bei der Betreuung der einheimischen und internationalen Fellows. Die habilitierte Germanistin forscht zu Themen an der Schnittstelle von Literatur- und Rechtswissenschaften. Insbesondere Praktiken der Sprachstandardisierung im Recht haben ihr Interesse erregt. Seit dem 17. Jahrhundert trieben Gelehrte wie Justus Georg Schottelius diese Entwicklung mit dem Ziel voran, eine einheitliche deutsche Rechtssprache zu erschaffen. Doch noch rund einhundertfünfzig Jahre später standen die Verfechter eines einheitlichen Urheberrechts vor der Herausforderung, sich zunächst einmal auf gemeinsame Begrifflichkeiten einigen zu müssen. Im Interview gibt Lieb einen Einblick in ihre Forschungsthemen und erläutert, wie eng Sprache und Recht miteinander zusammenhängen.
PD Dr. Claudia Lieb ist Germanistin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Käte Hamburger Kolleg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die deutsche und europäische Literaturgeschichte, Literatur- und Medientheorie sowie der Zusammenhang von Recht und Literatur.
Frau Dr. Lieb, was hat Sie an der Stelle am Kolleg besonders gereizt?
Die Stelle ist hochspannend für mich, weil sie sich mit meinen Interessen deckt: Seit mehr als zehn Jahren forsche ich im Grenzbereich zwischen Rechtsgeschichte, Literaturgeschichte und der Geschichte der Geisteswissenschaften. Dass im Kolleg das Recht juristisch und geisteswissenschaftlich untersucht wird, hat mich sofort angesprochen. Wie erwartet ist die Forschungsfamilie des Kollegs ungeheuer inspirierend. Umgekehrt kann ich als Literaturexpertin eine weitere fachliche Perspektive einbringen. So sehe ich in unserem Forschungsprogramm einen poetischen Bezug: Seit der Antike ist „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ die wohl berühmteste Definition von Kunst. Sie geht zurück auf Platons „Phaidros oder Vom Schönen“, wo es heißt, „daß jede Rede in sich bestehen muß wie ein lebendiges Geschöpf, das seinen eigentümlichen Leib hat, so daß ihm weder Fuß noch Kopf mangele, sondern sie muß ihren Rumpf und ihre Gliedmaßen haben, die alle so verfaßt sind, daß sie sich gegenseitig und dem Ganzen entsprechen.“ (vgl. Plat., Phaidr., 264c1–5).
Sie haben sich mit einer Arbeit über das Verhältnis von Literatur- und Rechtswissenschaft habilitiert. Warum interessieren Sie sich als Germanistin eigentlich für das Thema Recht?
Generell interessieren mich fachübergreifende Zusammenhänge. Das hat mit meiner akademischen Sozialisation zu tun: Als ich studierte und promovierte, war die Foucault’sche Diskursanalyse die Methode der Wahl und gab Aufschluss über interdisziplinäre Verflechtungen. Nach meiner Promotion beschäftigte sich der Lehrstuhl meines Doktorvaters Detlef Kremer mit „Literatur und Recht“. So kam ich mit dem Thema Recht in Kontakt, und seitdem hat es mich fasziniert. Die Grundidee meines Buchs „Germanistiken. Zur Praxis von Literatur- und Rechtswissenschaft“ war, dass Jacob Grimm nicht der einzige Gelehrte gewesen sein kann, der sich mit dem Zusammenspiel von Literatur und Recht beschäftigte. Dem war auch so: Ich fand heraus, dass philologisch und juristisch arbeitende Gelehrte schon in der Frühen Neuzeit eine Denkgemeinschaft bildeten.
Am Kolleg werden Sie sich mit Sprachstandardisierungen im Recht beschäftigen. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Unter Sprachstandardisierung verstehe ich den Prozess, durch den Mitglieder einer Gruppe ihre Sprache bewusst formen und pflegen. Das kann die deutsche Sprache sein: Als Jacob und Wilhelm Grimm 1852 mit der Publikation ihres „Deutschen Wörterbuchs“ begannen, wollten sie das Deutsche bewusst normieren. Ich möchte am Kolleg rechtsspezifische Sprachstandardisierungen untersuchen, zum einen die Sprache des Urheberrechts, die in der Sattelzeit von DichterInnen und Gelehrten geformt wurde, zum anderen die Anfänge der Rechtssprache als deutsche Fachsprache am Beispiel des Wolfenbütteler Juristen und Sprachgelehrten Justus Georg Schottelius (1612-1676).
„Das Deutsche war für Sprachpatrioten wie Schottelius ‚in‘“
Warum erschien es Juristen wie Schottelius seit dem 17. Jahrhundert überhaupt notwendig, von der etablierten und international verständlichen Rechtssprache Latein zunehmend ins Deutsche zu wechseln?
Das Deutsche war für Sprachpatrioten wie Schottelius ‚in‘. Weil damals die ersten Schritte auf dem Feld deutscher Sprachstandardisierung gemacht wurden, ist das 17. Jahrhundert so interessant. Während und nach dem Dreißigjährigen Krieg gab es patriotische Gründe für die Aufwertung des Deutschen, aber auch eminent praktische Gründe: Damals existierten zahlreiche deutsche Mundarten und einige schriftsprachliche Varianten, jedoch keine überregionale deutsche Standard-, Wissenschafts-, Rechts- und Gesetzessprache, wie wir sie heute kennen. Die Nomenklatur des gelehrten Rechts war lateinisch, es gab aber auch deutschsprachige partikulare Rechtsquellen. Wie konnte das Deutsche in dieser Situation als Sprache des Rechts in Stellung gebracht werden, so dass sich der Wunsch nach größerer sprachlicher Einbindung des Rechts in die deutschen Verhältnisse des Alten Reichs erfüllte? Dieses Problem wollte Schottelius durch ein Lexikon lösen, in welchem er den deutschen Rechtswortschatz bewusst formte.
Typisch für die Epoche der Frühen Neuzeit ist ihre Rechtsvielfalt – man denke etwa an die territoriale Zersplitterung des Rechts oder auch das Nebeneinander von Gemeinem Recht und unzähligen Partikularrechten. Inwieweit kann man Ihrer Ansicht nach von einem inneren Zusammenhang zwischen der zu dieser Zeit uneinheitlichen Rechtssprache und der Vielfalt oder sogar Konkurrenz der Normen sprechen?
Hier ist noch vieles unklar. Schottelius‘ Rechtslexikon zeigt, dass sich die Vielfalt oder Konkurrenz von Normen in der Sprache spiegelt. Das betrifft Rechtsnormen, die sich aus schriftlichen Texten ableiten lassen, aber auch andere Normen, etwa die von Schottelius verfochtene Sprachnorm, wonach das Deutsche tendenziell von Fremdwörtern zu reinigen sei. Allerdings konnte er selbst noch nicht auf das Lateinische verzichten.
Ihr Forschungsinteresse gilt weiterhin den Diskursen rund um die Schaffung eines Urheberrechts im 18. und 19. Jahrhundert. Inwiefern haben wir es hier mit einem Prozess der Rechtsvereinheitlichung zu tun?
Es handelte sich zunächst um einen sprachlichen Prozess: Bevor man ein Gesetz schreiben konnte, mussten die zentralen Begrifflichkeiten geklärt werden. Die großen Probleme, um die es damals ging, waren Raub- und Nachdrucke, die gängige Praxis des Plagiierens und Druckprivilegien, die dem Buchdrucker, nicht aber dem Autor/der Autorin bestimmte Rechte einräumten, z.B. eine generelle Druckerlaubnis oder Schutz gegen Nachdruck – und dies auch nur in einem begrenzten Gebiet. Spannend ist, dass in den eigentlich rechtstheoretischen Texten zum Büchernachdruck Fragen aufgeworfen wurden, die keine juristischen, sondern medien- und literaturtheoretische sind: Was ist ein Buch? Was ist ein Werk? Ist ein Werk vom Autor/von der Autorin zu trennen, wenn ja, wie? Parallel dazu wurde ein einheitliches Gesetz gegen den Büchernachdruck gefordert. Dessen Umsetzung erwies sich aber als zäh: Ein nationales Urheberrecht trat in Deutschland erst im 20. Jahrhundert in Kraft.
„Rechtssprachliche Äußerungen haben einen historischen und landestypischen ‚Sound‘ bzw. Sinn, den man analysieren kann“
Dass Sprache die Wirklichkeit formt, ist innerhalb der Kulturwissenschaften relativ unumstritten. Müssen wir stärker berücksichtigen, dass auch das Recht durch die Sprache bestimmt wird, in der es verfasst ist? Und mit Blick auf geltendes Recht: Wie bewerten Sie etwa aktuelle Forderungen nach geschlechtergerechter Sprache in Gesetzes- und Verwaltungstexten?
Ja. Mit der Sprachlichkeit des Rechts wird nicht nur reflektiert, dass Sprache einen wesentlichen Beitrag zur Weltwahrnehmung leistet. Wer die Sprachlichkeit des Rechts betont, der betont auch die Medialität des Rechts und zeigt sich misstrauisch gegen einen einfachen Zugriff auf Realität. Frühere Versuche, das Recht jenseits seiner sprachlichen Materialität als wesenhaft, substanziell, organisch o.ä. zu bestimmen, sind heute veraltet. Stattdessen haben rechtssprachliche Äußerungen einen historischen und landestypischen ‚Sound‘ bzw. Sinn, den man analysieren kann. Ein Beispiel wäre die Metaphorik des Wortes „Recht“. Seit der Frühen Neuzeit gibt es im nordeuropäischen Raum diesbezüglich zwei Metaphern, die sich mit unterschiedlichen Rechtsverständnissen verbinden: einerseits die Metapher des Rechts als etwas Niedergelegtes (lag/low/law), wie sie im angelsächsischen, aber auch im norddeutschen Raum vorkommt, andererseits die Metapher des Rechts im Sinne von „das Rechte, das Richtige“. Was die geschlechtergerechte Sprache angeht: Offenkundig braucht jedes Jahrhundert seine eigene Sprachstandardisierung. Ich bin gespannt auf den Ausgang dieses Normierungsversuchs, der ja nicht auf Recht und Verwaltung beschränkt ist, und auf das entsprechende Wörterbuch des 21. Jahrhunderts.
Die Fragen stellte Lennart Pieper.
Zitieren als:
Claudia Lieb/Lennart Pieper: „Die Vielfalt von Normen spiegelt sich in der Sprache“. Interview, EViR Blog, 15.06.2022, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewlieb/.
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