Matthias Bähr im Interview über den globalen Handel mit Human Remains in der Frühen Neuzeit.
Menschliche Gebeine, die seit der Kolonialzeit in deutschen Sammlungen liegen, erhalten in den letzten Jahren im Kontext von Restitutionsdebatten vermehrt mediale Aufmerksamkeit – zuletzt beispielsweise in der ZEIT. Doch bereits vor dem deutschen Kolonialismus gab es einen regen Handel mit menschlichen Überresten. Der Historiker Matthias Bähr beschäftigt sich während seines Fellowships am Kolleg mit dem Handel mit Human Remains in der Frühen Neuzeit. Im Interview spricht er über seine Forschung und thematisiert unter anderem Machtasymmetrien und die wesentliche Rolle von Aushandlungsprozessen der beteiligten Akteure.

PD Dr. Matthias Bähr ist Historiker und forscht unter anderem zur Geschichte religiös-konfessioneller Vielfalt, sozialen Konflikten und dem Umgang mit Human Remains. Er ist von Oktober 2024 bis Mai 2025 Fellow des Käte Hamburger Kollegs.
Sie beschäftigen sich während Ihres Fellowships am Kolleg mit dem globalen Handel mit Human Remains, also menschlichen Überresten, während der Frühen Neuzeit. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Menschliche Überreste wurden in der Frühen Neuzeit praktisch unentwegt gekauft und verkauft, aber die Forschung weiß darüber bislang überraschend wenig. Das liegt daran, dass man sich lange eher mit Bestattungspraktiken und anderen Themen der Religionsgeschichte befasst hat und die ökonomische Dimension von Körpermaterie einfach nicht im Fokus stand. Daher wollte ich genauer wissen, was da los war. Ich glaube inzwischen, dass gerade der Handel mit menschlichen Überresten viel darüber verrät, was Menschen damals wichtig war. Denn meistens waren Human Remains eben doch keine ganz gewöhnliche Handelsware. Man musste sich zum Beispiel über Moralvorstellungen und Rechtskonzepte erst einmal verständigen, gerade im Kulturkontakt. Hier können wir also einiges über den historischen Umgang mit Normenvielfalt lernen.

In welcher Form und in welchen Kontexten wurde mit den Human Remains gehandelt?
Im Moment interessiert mich vor allem der Handel mit Schädeln und mumifizierten Köpfen, zum Beispiel aus dem Pazifikraum. Solche Überreste hat man seit dem 18. Jahrhundert verwendet, um rassistische Vorstellungen zu legitimieren. Ganz generell wurde schon seit dem Mittelalter mit menschlichen Überresten Handel getrieben, etwa mit Reliquien, also Körperfragmenten, die religiös verehrt wurden und teils unglaublich wertvoll waren. In der Frühen Neuzeit existierte zudem ein florierender Handel mit anatomischen Präparaten, die außerordentlich kunstvoll hergestellt wurden. Wenn man das richtig gut beherrschte, konnte man im 17. Jahrhundert sehr viel Geld verdienen. Darüber hinaus wurde Körpermaterie in Europa auch als Arzneimittel verwendet und zum Beispiel aus Nordafrika importiert – das war ein riesiger Markt, über den man bisher relativ wenig weiß. Den Handel mit Anatomieleichen, die nachts aus Friedhöfen ausgegraben wurden, kennt man ja vielleicht. Das ist für mich gerade das Spannende, dass menschliche Überreste in der Frühen Neuzeit eben in ganz vielen Kontexten ein wirklich begehrtes Handelsgut waren. Das erkennt man aber oft erst, wenn man ganz genau hinschaut und die Quellen anders liest, als das die Forschung bisher häufig gemacht hat.

Gab es im Zusammenhang mit dem Handel Konflikte oder Aushandlungsprozesse zwischen den beteiligten Akteuren? Wurden (neue) rechtliche Regelungen gefunden?
Grundsätzlich waren Akteurinnen und Akteure aus nicht europäischen Gesellschaften etwa in Indien oder Ozeanien am Handel mit menschlichen Überresten ganz maßgeblich beteiligt – das ist ein wichtiger Aspekt meiner Arbeit. Zwar gab es bei der Aneignung von Human Remains häufig brutale Machtasymmetrien und Unrechtskontexte. Aber nach welchen Regeln dieser Handel ablief, wurde häufig zwischen europäischen Handelsagenten, Naturforschern, Missionaren und indigenen Akteuren im Kulturkontakt ausgehandelt. Lokale Vorstellungen und Rechtskonzepte spielten da oft eine wesentliche Rolle. Dazu gehörten zum Beispiel Regeln für die religiöse Behandlung von Körpermaterie, aber etwa auch Gewalt- und Beschämungspraktiken im Umgang mit getöteten Feinden. Meine Forschungen zeigen: Diese lokalen Vorstellungen zu beachten, war für gut funktionierende Handelskontakte absolut essenziell.
Wie reagierten die christlichen Kirchen auf den Handel mit menschlichen Überresten? Gab von kirchlicher Seite oder aus anderen Kreisen moralische Bedenken oder sogar Proteste?
Das kommt ganz auf den Kontext an. Im 18. Jahrhundert gab es organisierte Banden, die Verstorbene exhumierten und verkauften. Da kam es regelmäßig zu Protesten, auch von kirchlicher Seite. Bei Human Remains aus den europäischen Überseekolonien war es hingegen so, dass christliche Missionare stark in den Handel involviert waren. Meine Forschungen deuten allerdings darauf hin, dass es auch da ein gewisses Unrechtsbewusstsein gab, weil sich diese Leute, bei aller Brutalität der Kolonialstrukturen, häufig auch als Anwälte indigener Gruppen verstanden und es sich in vielen Fällen zudem um Abolitionisten handelte, also um Gegner der Sklaverei, die den Handel mit lebenden Menschen vehement ablehnten. Und jetzt waren sie plötzlich am Handel mit toten Menschenkörpern beteiligt! Also da ist es ungeheuer spannend, der Frage nachzugehen, wie diese Missionare mit ihrer komplizierten Rolle umgingen und ob sie ihre Beteiligung am Handel mit menschlichen Überresten zum Beispiel – dafür gibt es Indizien – verschleierten, also etwa den gewinnorientierten Handel als selbstlosen Dienst an der Wissenschaft darstellten.

Aktuell werden öffentliche Debatten zum Umgang mit Human Remains in Museen oder wissenschaftlichen Sammlungen geführt. Das betrifft meist Sammlungen, die während der deutschen Kolonialzeit angelegt wurden. Inwiefern können Ihre Forschungsergebnisse zu diesen Debatten um Restitution beitragen?
In der Provenienzforschung, die sich mit der Herkunft solcher Präparate befasst, wurden in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht und viele Human Remains aus kolonialen Unrechtskontexten wurden schon an Herkunftsgesellschaften zurückgegeben. Das öffentliche Bewusstsein für die ethisch problematische Herkunft ist in den letzten Jahren immens gestiegen. In manchen Sammlungen stehen die Forschungen aber erst am Anfang. Gerade ein neuer Blick auf bislang wenig beachtete Quellen zum Beispiel der europäischen Handelsgesellschaften verspricht hier neue Erkenntnisse und kann den Blick dafür schärfen, dass der globale Handel mit menschlichen Überresten auf eine sehr lange Geschichte zurückblickt und nicht im 19. Jahrhundert urplötzlich einsetzt.
Interview von Kathrin Schulte
Zitieren als:
Matthias Bähr/Kathrin Schulte: „Die lokalen Vorstellungen zu beachten, war für Handelskontakte essenziell“ Interview, EViR Blog, 10.04.2025, https://www.evir.uni-muenster.blog/interviewbaehr
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