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Handlungsmacht gegen die Obrigkeit

Wie Individuen und Kollektive von Recht Gebrauch machen

2025 begehen wir das 500. Jubiläum des Deutschen Bauernkriegs, und die vielen Ausstellungen und Konferenzen lassen keinen Zweifel daran, dass dieses Thema von großem öffentlichem Interesse ist. Ob man ihn nun als eine Revolution beschreiben möchte oder nicht – der Bauernkrieg war eine Massenbewegung, in der sich Bäuerinnen und Bauern, aber auch viele landarme und landlose Gruppen der ländlichen Bevölkerung gegen Abgabenlasten und die Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit durch die Leibeigenschaft auflehnten.

Historische Jubiläen werden nicht selten von neuen Bucherscheinungen begleitet und der Bauernkrieg stellt da keine Ausnahme dar. Im Januar 2025 lud das Kolleg deshalb zu einer Buchvorstellung in die Stadtbücherei nach Münster. Die Präsentation von Gerd Schwerhoffs Der „Bauernkrieg. Eine wilde Handlung“ stieß auf großes Interesse beim Publikum, das den Saal bis auf den letzten Platz füllte und die Gelegenheit nutzte, um dem Autor Fragen zu stellen. Da parallel in Bielefeld Lyndal Roper ihr Buch „Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525“ (Originaltitel: „Summer of Fire and Blood: The German Peasants‘ War”) vorstellte, wurden beide für den folgenden Tag für eine Masterclass nach Münster eingeladen. Forschende und Studierende aus Münster und Bielefeld diskutierten gemeinsam mit Lyndal Roper und Gerd Schwerhoff das historische Ereignis des Bauernkriegs, beleuchteten seinen Zusammenhang mit der reformatorischen Bewegung und setzten sich mit den verschiedenen Ansätze beider Bücher auseinander.

Eine Holzschnittdarstellung des Bauernkriegs. Die Szene zeigt einen heftigen Kampf zwischen Bauern und einer besser ausgerüsteten Armee in einer Stadt. Bauern mit einfachen Waffen kämpfen gegen Soldaten in Rüstungen, während Burgen auf einem Hügel im Hintergrund zu sehen sind. Die Darstellung fängt die Gewalt und den Konflikt des Bauernkriegs ein.
Gewalt ging im Bauernkrieg vor allem von der Obrigkeit aus, wie hier zu sehen auf einem Holzschnitt aus dem Bamberger Burgenbuch. Staatsbibliothek Bamberg, RB.H.bell. f. 1, Bl. 66. Foto: Gerald Raab, CC BY-SA 4.0.

Der Bauernkrieg ruft bei vielen Bilder von waffenschwingenden Bauernhaufen hervor, die sich gewaltsam gegen ihre Unterdrückung wehrten. Gewalt ging jedoch in erster Linie von obrigkeitlicher Seite aus und war ohnehin nur eine Seite der Unruhen: Seit dem Bauernkrieg nahm eine Entwicklung Fahrt auf, die als Prozess der „Verrechtlichung“ bezeichnet werden kann. Zunehmend wurde versucht, Konflikte zwischen der ländlichen Bevölkerung und ihrer Obrigkeit vor Gerichten auszutragen und über Verhandlungen vor eingesetzten Kommissionen zu einer friedlichen Einigung zu kommen.

Eine solche Verrechtlichung lässt sich nicht nur im Kontext von Konflikten zwischen Untertanen und Obrigkeiten beobachten, sondern in nahezu allen Lebensbereichen der Menschen. Im Gebiet des heutigen Deutschlands, aber auch in den heutigen Niederlanden, in England und Frankreich stieg die Zahl der angestrengten Gerichtsprozesse ab der Mitte des 16. Jahrhunderts stark an. Menschen aus beinahe allen sozialen Schichten nutzten verstärkt Gerichte, um ihre Konflikte auszutragen.

Der Historiker Martin Dinges hat diese Beobachtungen unter dem Begriff der „Justiznutzung“ zusammengefasst. In Abgrenzung zur damals in der Geschichtswissenschaft dominanten Sichtweise auf die Justiz als eines obrigkeitlichen Instruments der Disziplinierung und Repression lenkt er den Blick auf die Akteure und ihre aktive Nutzung von Gerichten. Im Rahmen unseres vierten Konzeptforums im Februar 2025 haben wir Martin Dinges eingeladen, um das Konzept zusammen mit Mitarbeitenden und Fellows des Kollegs aus verschiedenen fachlichen Perspektiven zu beleuchten und das Erklärungspotenzial eines solchen akteurszentrierten Ansatzes für Dynamiken von Rechtsvielfalt und -einheit zu erörtern. Die Diskussionen waren außerordentlich anregend und die Beiträge werden in Kürze in unseren Working Papers veröffentlicht.

Eine Besonderheit des Konzepts der Justiznutzung ist die Betonung der Handlungsmacht (agency) von Individuen und Gruppen, auch solcher, die auf den ersten Blick machtlos erscheinen. Justiz und Gerichte stellten für sie eine Möglichkeit dar, ihre Interessen zu verfolgen oder gegen obrigkeitliche Entscheidungen auf höherer gerichtlicher Ebene zu appellieren. Das Vorhandensein von Rechts- und Gerichtsvielfalt konnte ihnen dafür mitunter bessere Chancen eröffnen.

Interessanterweise nimmt diese historische Konstellation bereits Phänomene und Entwicklungen vorweg, die auch für die gegenwartsbezogene Rechtsforschung – unter anderem die Rechtssoziologie – von größtem Interesse sind. So werden unterschiedliche Varianten des Konzepts der „Verrechtlichung“ bereits seit vielen Jahrzehnten genutzt, um charakteristische Dynamiken der modernen Gesellschaft auf den Begriff zu bringen. Allerdings ist dieser gesellschaftstheoretische Diskurs weitgehend losgelöst von der geschichtswissenschaftlichen Verwendung des Verrechtlichungskonzepts, die mit einem ganz konkreten historischen Zeitraum assoziiert ist.

Aus einer rechtssoziologischen Perspektive auf „Mobilisierungen“ des Rechts kommt aber auch der strategischen Anrufung von Gerichten in der Gegenwart eine enorme Bedeutung zu. Als Formen der „strategischen Prozessführung“ (strategic litigation) werden dabei Praktiken bezeichnet, in denen die Institutionen des Rechts „genutzt“ werden, um kollektiven (politischen, sozialen usf.) Anliegen Gehör zu verschaffen und gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Der konkrete Streitgegenstand und mitunter auch der Erfolg der Einzelklage treten in diesen Fällen hinter dem kommunikativen Effekt massenmedial begleiteter Prozesse zurück; die Generierung von gesellschaftlicher Aufmerksamkeit für bestimmte Themen, der Versuch, spezifische Anliegen überhaupt erst zum Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen zu machen, und die Logik des Präzedenzfalls dominieren vielfach den Prozess.

Nicht zufällig wird diese Form der Justiznutzung gerade im Kontext der Forschung zu sozialen Bewegungen oder der Soziologie der Menschenrechte prominent verhandelt: Auch hier geht es um kollektive Strategien des Erkämpfens von agency gegenüber etablierten Machtverhältnissen, um Versuche, das Recht oder auch hybride normative Strukturen als widerständige Formen wiederzuentdecken, zu eigenen Zwecken zu mobilisieren und gegen „Obrigkeiten“ zu wenden. Insofern ist es bemerkenswert, dass die historischen Wurzeln der strategic litigation in der Regel im 20., allenfalls im späten 19. Jahrhundert verortet werden, typischerweise zumindest nicht im 16. Jahrhundert.

Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation sitzen auf der Straße, einige haben eine Hand auf die Straße geklebt.
Klimaaktivisten wie die „Letzte Generation“ greifen nicht nur zu Straßenblockaden, sondern nutzen auch das Recht, um ihre Ziele zu verfolgen, 28. Oktober 2023. Robbie Morrison (RobbieIanMorrison), Letzte Generation climate protesters sitting on Straße des 17 Juni Berlin Germany on 28 October 2023, CC BY 4.0.

Mit Blick auf die Gegenwart lassen sich aber schließlich auch Phänomene beobachten, die sowohl über Dinges Konzept der „Justiznutzung“ als auch über das klassische Verständnis von strategischer Prozessführung hinausweisen: Wenn Mitglieder sozialer Bewegungen (wie etwa die Klimaaktivistinnen und -aktivisten der „Letzten Generation“) sich beispielsweise Gerichtsgebäude und Strafprozesse in symbolischer und performativer Weise aneignen, durch Störungen der Choreographie des Rechts gezielt Irritationen im Gerichtssaal herbeiführen oder in strategisch-kommunikativer Absicht sogar fiktive Strafprozesse gegen „Klimasünder“ inszenieren, so kommt darin ein ebenso kritischer wie kreativer Umgang mit Recht und Justiz zum Ausdruck, der kulturell auf spezifisch spätmodernen Voraussetzungen beruht – vielleicht aber auch in der aufständischen Aneignung von Rechtswegen und juristischen Institutionen im 16. Jahrhundert einen Ursprung findet.


Zitieren als:

Benjamin Seebröker/Daniel Witte: „Handlungsmacht gegen die Obrigkeit“. EViR Blog, 04.07.2025, https://www.evir.uni-muenster.blog/handlungsmacht

Lizenz:

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