Trug der Handel in vormodernen Städten zu einer Vereinheitlichung des Rechts bei? Diese Frage stand im Zentrum eines Werkstattgesprächs, das das Käte Hamburger Kolleg „Einheit und Vielfalt im Recht“ am 3. Dezember 2021 in Kooperation mit dem ebenfalls in Münster ansässigen Institut für vergleichende Städtegeschichte veranstaltete. Das digitale Treffen bildete den Auftakt einer Werkstattgesprächsreihe zum Thema „Gesellschaftliche Diversität und Phänomene rechtlicher Einheit und Vielfalt in der vormodernen Stadt“.
ULRIKE LUDWIG (Münster) präsentierte als eine der beiden Kolleg-Direktoren eingangs die Leitgedanken der Gesprächsreihe, die sich mit dem Wechselverhältnis von gesellschaftlicher Diversität in der vormodernen Stadt und Phänomenen von Vielfalt und Einheit im Recht befasst. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit bestimmte Formen rechtlicher Vielfalt in der Stadt Ausdruck gesellschaftlicher Diversität waren, die sich in der rechtlichen Sonderstellung oder Andersbehandlung bestimmter Gruppen (im positiven wie negativen Sinne) immer wieder neu konstituierte und wo rechtliche Vielfalt an Grenzen stieß bzw. Prozesse der Vereinheitlichung auszumachen sind. Hinter diesen Fragen steht der am Käte Hamburger Kolleg verfolgte Ansatz eines „relationalen, historisch wandelbaren Zusammenhangs“ von Einheit und Vielfalt im Recht. Um eine konzentriertere Diskussion zu ermöglichen, wird in der Reihe phänomenologisch eine doppelte Fokussierung vorgenommen: einerseits durch die räumliche Beschränkung auf vormoderne Städte, andererseits durch thematische Schwerpunktsetzungen. Den Auftakt machte nun das Gespräch zum Handel als Faktor. Diskutiert wurde ausgehend von zwei konkreten Detailstudien. Ein dritter Vortrag von Andrea Bendlage zu spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gastgerichten musste leider kurzfristig entfallen. Neben den Referenten waren zudem ESTHER SAHLE (Berlin), GREGOR ROHMANN (Berlin/Frankfurt a. M.) und CHRISTOF JEGGLE (Basel) als externe Diskutanten eingeladen, mit denen die wirtschaftshistorische Expertise der Runde weiter verstärkt wurde.
PHILIPP HÖHN (Halle) analysierte in einem ersten Vortrag „Maritime Gewalt und Rechtspluralismus in englischen und hansischen Coastal Communities“. Solche Gemeinschaften sah Höhn vor allem geprägt durch die phasenweise Abwesenheit von Männern, den Fischfang sowie Migration und Handel. In verdichteter Form ließen sich in Coastal Communities Konflikte über Rechtsfragen erkennen – und zwar wegen des Handels über politische Grenzen hinaus. Besonderes Anliegen Höhns war es, zwei traditionelle historiographische Narrative zu hinterfragen: zum einen die angeblich sehr viel größere Autonomie deutscher Städte im Vergleich zu englischen, zum anderen die Existenz spezifisch kaufmännischer Konfliktlösungsstrategien. Höhn präsentierte dabei insgesamt vier Vergleiche, die jeweils einen Rechtskonflikt in der englischen Hafenstadt Great Yarmouth zum Ausgangspunkt hatten und sich auf Hansestädte oder aber die Cinque Ports an der englischen Kanalküste bezogen. Im Ergebnis betonte er, dass es – anders als in etablierten Narrativen vermittelt – große Ähnlichkeiten zwischen Great Yarmouth und hansischen Städten gebe. So existierten in beiden Fällen unterschiedliche Legal Communities in der Stadt. In den Hansestädten seien dies vor allem Immunitäten gewesen, in Great Yarmouth zusätzlich auch sehr große Gruppen fremder Kaufleute aus Zeeland und Holland. Höhn bezweifelte die Triftigkeit einer Homogenisierungserzählung, nach welcher Handel zu einer Vereinheitlichung von Rechtsräumen geführt habe. Er unterstrich zudem die Ähnlichkeit des englischen und des hansischen Umgangs mit Normen- und Formpluralismus. Überdies seien die vorgestellten Konflikte nicht nur ökonomischer Natur gewesen, sondern immer auch durch politische Machtfragen geprägt gewesen.
Die anschließende, lebhafte Diskussion kreiste vor allem um drei zentrale Punkte. Eine Besonderheit Great Yarmouths ist die große Anzahl zeeländischer und holländischer Kaufleute in der Stadt. Sie hatten kein Bürgerrecht und strebten dieses offenbar auch nur sehr selten an. An englischen Gerichten konnten sie nicht klagen. Dasselbe galt – zumindest de jure – auch für die Frauen in der Stadt. Weite Teile der Stadtbevölkerung waren damit eigentlich aus der rechtlichen Lösung von Konflikten ausgeschlossen. Welche alternativen Wege sie wählten, ob die Zee- und Holländer zum Beispiel Gerichte in ihrer ‚alten Heimat‘ anriefen oder ob Frauen in Great Yarmouth doch Zugang zu Gerichten fanden, ist laut Höhn bisher kaum erforscht. Noch stärker fokussiert werden könnte zweitens – und gerade auch mit Blick auf die Frage nach rechtsvereinheitlichenden Tendenzen – die Königsherrschaft in England: Die englischen Kaufleute hatten es mit einem sehr viel stärkeren König zu tun als ihre norddeutschen Mitbewerber. Zudem hatte der König neben politischen auch durchaus eigene ökonomische Interessen, etwa im Bereich der Schattenökonomie auf der Reede, Ankerplätzen vor dem eigentlichen Hafen. Drittens kam in der Diskussion neben der Dimension des Raumes die der Zeit zur Sprache. Höhn verwies die Idee einer schnellen kaufmännischen Konfliktlösung in das Reich der Legenden. Dass Zeit geradezu geschunden wurde, zeigten etwa Fälle, in denen Kaufleute nicht persönlich vor Gericht erschienen und Prozesse so gezielt verzögerten. Dass diese Verzögerungen keineswegs ein Effekt von breit gestreuten Aufenthaltsorten waren, zeigt der Fall des Schiffes „George of Beverley“, dessen sich hansische Bergenfahrer 1464 bemächtigten. Hier konnten die Streitparteien ‚ihre‘ Zeugen sehr schnell und über große Distanzen benennen. Gleichwohl ist auch zu betonen, dass zugleich außergerichtliche Lösungen – heute würde man von Vergleichen oder im Strafrecht auch von ‚Deals‘ sprechen – Konflikte beenden beziehungsweise auf eine niedrigere Eskalationsstufe verlagern konnten. Solche Lösungen seien in den Quellen jedoch schwerer zu fassen. Abschließend betonte Höhn noch einmal, dass in seinem Fall nicht erkennbar sei, dass der Faktor Handel zu einer Vereinheitlichung des Rechts geführt habe. Vielfalt und Unklarheiten blieben bestehen, die Kaufleute strebten offenbar auch nicht an, daran etwas zu ändern.
Der zweite Vortrag führte in die Toskana des 14. Jahrhunderts. HEINRICH LANG (Leipzig/Wien) sprach über „Rechtsverhältnisse und Buchführung“ im Zusammenhang von Handelsgeschäften und Rechtsentwicklung. Ausgehend von einem Bonmot des Benedetto Cotrugli, demzufolge Juristen Feinde der Kaufleute seien, untersuchte Lang zum einen, wie Recht in die Buchführung eingeschrieben wurde und wie das Recht zum anderen wiederum die Buchführung adaptierte. Beide Aspekte verfolgend ging er dabei der Frage nach, inwieweit sich hier jeweils Tendenzen von Vereinheitlichung greifen lassen bzw. welche Rolle unterschiedliche, fallweise entwickelte Lösungen spielten. Florenz biete sich für eine solche Untersuchung besonders an. Denn es könne von einer Modellwirkung der florentinischen Verhältnisse ausgegangen werden, Florenz habe als „Inkubationsraum der Buchführung im toskanischen Spätmittelalter“ zu gelten. Die Buchführung, die historisch der tutrice (Vormundschaft) einer Mutter für minderjährige Erben entspringe, ermögliche komplexe Transferleistungen zwischen verschiedenen Konten. Neben dem Faktor Handel unterstrich Lang noch einen weiteren, nämlich die allmähliche Verbreitung des Schreibstoffes Papier mit damit einhergehenden neuen Schreibtechniken. Doch wo berührten sich die Buchführung und das Recht? Lang verwies auf Prozesse wegen ausbleibender Zahlungen und konzentrierte sich hier auf einen Prozess gegen die florentinische Familie Perugini, den eine Reihe von zum Teil namenhaften Gläubigern anstrengte. Er betonte besonders die wichtige Funktion von notai (Notaren), die Exzerpte aus Rechnungsbüchern erstellten und diese beglaubigten. Sowohl im Fall der (unbeliebten) Stadtgerichtsbarkeit als auch der (bevorzugten) Zunftgerichtsbarkeit seien es erst diese Notare gewesen, die durch ihre Abschriften für Gerichtsverhandlungen die Rechnungsbücher von der Sphäre des Ökonomischen ins Juristische transferierten. Nicht allein von materialkundlich besonderem Interesse seien die einzigen Pergamentseiten in den sonst aus Papier bestehenden Rechnungsbüchern: In einer Invocatio stellten toskanische Kaufleute dort an herausgehobener Stelle ihr wirtschaftliches Handeln als Teil der göttlichen Ordnung dar. Im Fall eines Prozesses wiederum habe die Abschrift und Beglaubigung einer solchen Invocatio es plausibilisiert, dass sich die Anwälte der Parteien neben dem weltlichen Recht auch auf das kirchliche berufen; wobei mit den Zunftgerichten und dem Stadtgericht auch unterschiedliche Foren zur Verfügung standen.
Die erneut angeregte Diskussion zwischen den externen Diskutanten, dem Referenten und einigen der insgesamt über 40 Zuhörer kreiste um zwei Themengebiete, die Materialität der Bücher und ihre Rechtsfunktion. Im Hinblick auf die Materialität der Bücher wurde herausgestellt, dass Papier im Spätmittelalter nicht allerorten günstiger war als das traditionellere Pergament. Papier war dennoch der bevorzugte Beschreibstoff der Kaufleute. Im Hinblick auf das Recht wurde von verschiedenen Seiten erstens auf die Modellwirkung der Toskana verwiesen. Diese betreffe zum einen das Vertragswesen, zum anderen das Handeln der Notare, das einem heute noch in Form der juristisch beglaubigten Auszüge begegne. Zweitens lässt sich nicht allein bei den Rechnungsbüchern eine Standardisierung erkennen. Denn die von Notaren erstellten Abschriften, die ihrerseits ebenfalls Standardisierungen aufwiesen, erkannten auch Gerichte außerhalb von Florenz als Beweismittel an. Diese Form von Vereinheitlichung gehe dabei, so Lang, nicht auf Lehrbücher zurück, sondern auf die Zünfte. Offen blieb hingegen, ob – drittens – die Invocatio eher Ausdruck einer Ausdifferenzierung sozialer Systeme und mithin eine Art Auslagerung des Religiösen war, oder ob sie auf einen Doppelcharakter von Religiösem und Ökonomischem im Handeln toskanischer Kaufleute verweise. Heinrich Lang plädierte in diesem Punkt dafür, die Invocatio als religiöse Handlung ernst zu nehmen – wenngleich sie eben auch Bezugnahmen auf das kanonische Recht plausibilisierte, das in Zinsfragen für Schuldner vorteilhafter sein konnte als das weltliche Recht.
Gewissermaßen wurde damit auch schon eine Brücke zum nächsten Werkstattgespräch der eingangs erwähnten Reihe geschlagen: Der Fokus liegt dann auf den Folgen religiöser Vielfalt für die Rechtsvereinheitlichung und -pluralisierung. Gegenstand des dritten Werkstattgesprächs werden Zusammenhänge zwischen Stadttypen und Rechtsvielfalt beziehungsweise -einheit sein.
Doch wie steht es um eine etwaige rechtsvereinheitliche Wirkung des Handels, also die Leitfrage des ersten Werkstattgesprächs? Die analysierten Fälle aus England, aus den Hansestädten und aus der Toskana legen nahe, dass zumindest die dortigen Kaufleute im Spätmittelalter kein Interesse daran hatten, Konflikte im Rahmen dessen zu lösen, was man heute eine einheitliche Rechtsordnung nennen würde. Offenbar galt es, Optionen zu haben. Dass sich dennoch besonders im Prozessrecht gewisse Standardisierungen und mithin Vereinheitlichungen beobachten lassen, ist demgegenüber eher auf andere Akteure zurückzuführen, insbesondere Juristen. Insofern hatte der Umgang mit Rechtsvielfalt im Handel punktuell durchaus auch vereinheitlichende Effekte.
Übersicht:
PHILIPP HÖHN (Universität Halle): Maritime Gewalt und Rechtspluralismus in englischen hansischen Coastal Communities
HEINRICH LANG (Universität Wien): Rechtsverhältnisse und Buchführung. Wirtschaftliches Handeln und die Entwicklung von Recht im späten Mittelalter
Externe Diskutanten nach beiden Vorträgen: ESTHER SAHLE (FU Berlin), GREGOR ROHMANN (Universität Frankfurt a. M.) und CHRISTOF JEGGLE (Universität Basel)
Über den Autor
Jan Matthias Hoffrogge ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kolleg.
Zitieren als:
Hoffrogge, Jan Matthias, Bericht über das Werkstattgespräch „Handel als Faktor“ am 3. Dezember 2021, EViR Blog, 20.12.2021, https://www.evir.uni-muenster.blog/berichtwerkstattgespraech/.
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