Welttage für Gerechtigkeit gibt es in vielen Schattierungen. Jährlich wird damit für gute Zwecke geworben, zumeist durch Beschluss der Vereinten Nationen: am 20.2. für soziale Gerechtigkeit, am 26.6. für die Unterstützung für Folteropfer, am 19.8. für humanitäre Hilfe, am 21.9. für den Weltfrieden und am 10.12. für die Menschenrechte. Diese Reihe ließe sich noch um einige Anlässe erweitern und insbesondere um den 17. Juli ergänzen, der seit 2010 als Internationaler Tag für Gerechtigkeit gefeiert wird. Die Bedeutung solcher Tage für das öffentliche Bewusstsein sind von Land zu Land verschieden, jedoch hätte die Bundesrepublik dieses Jahr besonderen Grund den 17. Juli feierlich zu begehen.
Der von den Vereinten Nationen ins Leben gerufene Welttag erinnert an die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), dessen Statut am 17. Juli 1998 in Rom beschlossen wurde. Nach den Erfahrungen mit der internationalen Strafverfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda in den frühen 1990er Jahren strebte die internationale Gemeinschaft eine Verstetigung des institutionellen Rahmens zur Verfolgung von Straftaten wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit an.
Die Geschichte des Völkerstrafrechts reicht indes weiter zurück. Schon während des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 führten Verletzungen der ersten Genfer Konvention zu Forderungen nach der Einsetzung eines internationalen Tribunals zur Ahndung von Kriegsverbrechen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden vom deutschen Reichsgericht in Leipzig (Schau-)Prozesse gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher aus den eigenen Reihen geführt. Die dürftigen Ergebnisse dieser „Verliererjustiz“ waren damals für die Entente keineswegs zufriedenstellend. So kam es dazu, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg internationale Militärtribunale waren, die in Nürnberg und Tokio den führenden Nazigrößen und Kriegstreibern den Prozess machten.
Das Weltrechtsprinzip ermöglicht einer Vielzahl von Gerichten die Ahndung völkerstrafrechtlicher Verbrechen
Heute ist das Völkerstrafrecht deutlich unübersichtlicher geworden. An die Stelle einer einzigen Institution tritt eine Fülle von zuständigen Gerichten. Denn tatsächlich stellt der IStGH bei der Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und anderen Kriegsverbrechen nur die Ultima Ratio dar. An erster Stelle stehen die Vertragsstaaten mit ihrer eigenen Strafjustiz. Dies normiert bereits Artikel 1 des Römischen Statuts, der den IStGH als Ergänzung zur innerstaatlichen Justiz hervorhebt.
Ermöglicht wird die Anklage von Völkerrechtsstraftaten vor nationalen Gerichten durch das Weltrechtsprinzip, auch bekannt als universelles Prinzip. Dieses rechtfertigt die weltweite Verfolgung mit der Schwere der Delikte. Die Entscheidung, welches Gericht gegen ein Verbrechen vorgeht, wird durch den Grundsatz der Komplementarität bestimmt: Nur in Fällen, in denen Vertragsstaaten nicht in der Lage oder nicht willens sind, Völkerstraftaten zu verfolgen, darf der IStGH ein eigenes Verfahren einleiten. Dieses System ist nicht zuletzt dazu gedacht, die nationale Souveränität zu einem gewissen Grad zu wahren und den IStGH nicht mit Arbeit zu überlasten.
Dass diese institutionelle Architektur den IStGH jedoch keineswegs zahnlos macht, zeigt das Beispiel Kolumbien. Hier stehen weitreichende staatliche Amnestien für diejenigen, die Gräueltaten verübt haben, im Spannungsverhältnis zu einer ernsthaften nationalen Strafverfolgung. Die Bemühungen der kolumbianischen Regierung zur Aufarbeitung des weltweit längsten Bürgerkriegs stehen daher unter dem scharfen Auge der internationalen Strafjustiz. Auch im brutalen „war on drugs“ auf den Philippinen stellte der IStGH kürzlich fest, dass möglicherweise Völkerrechtsverbrechen verübt wurden. Obwohl Präsident Duterte die Mitgliedschaft seines Landes beim IStGH nach Aufkommen der Kritik kurzerhand beendete, ist dieser weiter zuständig, weil die Taten bereits vor der Kündigung begannen.
© Vysotsky (Wikimedia), CC BY-SA 4.0
Auf dem Weg zu einer deutschen Völkerstrafrechtsprozesskultur
Das Völkerstrafrecht ist also auf den Beitrag einer Vielzahl von nationalen Gerichten angewiesen. Trotzdem tragen die unterschiedlichen Akteure zu einem einheitlichen völkerstrafrechtlichen System bei. In Deutschland war zuletzt das Oberlandesgericht Koblenz besonders im Fokus, das im April dieses Jahres einen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstgefängnisses „Al Khatib“ zu einer Freiheitsstrafe wegen Beihilfe und Mittäterschaft an Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte. Es war weltweit das erste völkerstrafrechtliche Urteil gegen einen Schergen von Bashar al-Assad.
Beim Prozess zeigte sich, dass Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch nicht mit den Bedürfnissen gängiger Verhandlungen vergleichbar sind. Nationale Gerichte – in Deutschland sind die Oberlandesgerichte in erster Instanz für solche Verfahren zuständig – haben sich hier in das vielfältige System der völkerrechtlichen Strafjustiz einzufügen. Zur gesteigerten internationalen Aufmerksamkeit für den Prozess und infrastrukturellen Herausforderungen kommen zusätzliche Anforderungen zur Aufarbeitung eines gewalttätigen Unrechtsregimes. Die Opfer spielen dabei eine zentralere Rolle als im rein innerstaatlichen Strafprozess, der auf individuelle und generelle Verhütung solcher Taten in Zukunft ausgerichtet ist. Hier sind es hingegen die Stimmen der Zeugen und Betroffenen, die dem offiziellen Staatsnarrativ eine neue Erzählung von Gewalt, Leid und Unrecht entgegensetzen. Daher wird von mehreren NGOs die umfangreiche Dokumentation der Prozessinhalte gefordert, die als Archiv für den Wiederaufbau Syriens dienen soll.
Das Versprechen des Völkerstrafrechts
Das Völkerstrafrecht und der IStGH vermögen es nicht, die grauenhaften Verbrechen zu verhindern. Ihr Verdienst besteht vielmehr darin, eine international anerkannte Sprache bereitzustellen, um die Straftaten als solche zu benennen. Als Institutionen sollen sie dafür sorgen, dass Täter nicht ungestraft davonkommen und gravierendes Unrecht aufgeklärt wird. Dabei kommt es nicht nur auf den Beitrag des IStGH an, sondern auf die Vielzahl der nationalen Gerichte, die an der Realisierung der Völkerstrafjustiz mitarbeiten.
Dr. Sebastian M. Spitra ist Rechtshistoriker und derzeit Fellow am Kolleg.
© Miloš Vec
Zitieren als:
Spitra, Sebastian, Die Vielfalt der völkerrechtlichen Strafjustiz, EViR Blog, 16.07.2021, https://www.evir.uni-muenster.blog/vielfaltstrafjustiz/.
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